Hans Ottomeyer
Vorwort
Zeremonien und Rituale gehörten
in der vormodernen Gesellschaft zu den wichtigsten Formen
nichtverbaler Kommunikation, die ihren Höhepunkt in Europa
während des Mittelalters und der frühen Neuzeit
in den Kirchen und an den Höfen erlebten. Da wir gegenwärtig
durch den vermehrten Einsatz visueller Medien erneut mit einer
Vielzahl optischer Zeichen konfrontiert sind, richten die
historischen und anthropologischen Wissenschaften ihre Aufmerksamkeit
seit geraumer Zeit verstärkt auf die symbolischen Kommunikationsformen
anderer Kulturen und Zeiten.
Während das gemeinsame Essen
heute ein beliebter Anlass zu zwangloser Geselligkeit und
individuellem Genuss ist, entwickelte sich das Speisen an
den Höfen zu einem streng regle-mentierten Akt, in dem
sich der Fürst regelmäßig dem Hofstaat und
den Untertanen zur Schau stellte. Jedem Detail dieses Aktes
kam dabei Aussagewert bezogen auf Rang und Bedeutung zu. Hohe
Potentaten wie der Papst in Rom oder der Kaiser in Wien signalisierten
ihre Sonderstellung dadurch, dass sie immer allein speisten.
Saßen andere Herrscher mit Staatsgästen zu Tisch,
spiegelten die Sitzordnung und die unterschiedlichen Materialien,
aus denen die jeweils vorgesetzten Tafelgeräte bestanden,
die politische Machtkonstellation. Ritualisierte Handlungen
wie das Reichen von Waschbecken und Wasser sowie das Vorschneiden,
die Giftprobe und das Vorlegen der Speisen waren wichtige
Bestandteile des Tafelzeremoniells, für die prächtige
Utensilien angefertigt wurden, die bis heute in Museen und
historischen Sammlungen aufbewahrt werden.
Es wäre falsch anzunehmen,
der Sinn der öffentlichen Tafel habe darin bestanden,
dem Herrscher bei der Nahrungsaufnahme zuzuschauen und sich
daran zu freuen, wie gut ihm das Essen schmeckt. Bei der offenen
Tafel geht es nicht um das Essen, nicht um Nahrungsaufnahme
oder eine andere Form von Kulinarik. Im Zentrum steht, was
Simmel einmal das "soziologische Gebilde der Mahlzeit"
nannte. An der Tafel finden sich Menschen zusammen, um ihre
gesellschaftliche Gruppe - die Familie, aber auch geistige
oder berufliche Ge-meinschaften - in nahezu ritueller Weise
durch den Akt des Teilens neu zu bestätigen. Im-mer wieder,
wenn Gesellschaften sich bestätigen, gefährdet sind,
auseinander zu brechen drohen oder ein Wechsel sich vollzieht,
versammelt man sich, um gemeinsam zu speisen. Das Speisen
hat dabei die Funktion, den gemeinschaftlichen Akt des Teilens
einzuüben und zugleich die verschiedenen Rollen innerhalb
der Gesellschaft nach innen und außen darzu-stellen.
Nur von diesem Ansatzpunkt aus lässt sich die offene
Tafel, die so viel geschichtliche Wirklichkeit schuf, verstehen.
Georg Simmel schrieb: "Gerade weil die gemeinsame Mahlzeit
ein Ereignis von physiologischer Primitivität und unvermeidlicher
Allgemeinheit in die Sphäre gesellschaftlicher Wechselwirkung
und damit überpersönlicher Bedeutung hebt, hat sie
in manchen früheren Epochen einen ungeheuren sozialen
Wert erlangt ... Man möchte glauben, daß in der
Unsicherheit und Fluktuierung des mittelalterlichen Daseins
dies ein sozusagen anschaulich fester Punkt war, ein Symbol,
an dem sich die Sicherheit des Zusammengehörens immer
von neuem orientierte."
In Fortführung der Simmelschen
Gedanken lässt sich sagen, dass die Mahlzeit, auf politische
Ebene gehoben, eine der wenigen Friedenstechniken ist, über
welche Menschen überhaupt verfügen. Deshalb wird
auf einer Ebene außerhalb der sprachlichen Kommunikation
jeder Vertrag, jede Friedensverhandlung, jeder Besuch, wozu
auch Staatsbesuche zählen, durch ein gemeinsames Mahl
beschlossen. Es ist eine Form des sich Vertragens. Erstaunlich
ist nur, dass über jede Form der kriegerischen Auseinandersetzung
und Aggression wissenschaftliche Abhandlungen verfasst wurden,
die ganze Bibliotheken füllen, die Soziologie und die
Gemeinschaft der Tafel aber merkwürdig im Verborgenen
blühen und es fast als anrüchig gilt, über
die Mahlzeit zu sprechen oder zu schreiben.
Was die öffentliche Tafel
auszeichnet, ist ihre weitgehende Angleichung an zwei grundle-gende
Handlungen, die das Leben früherer Zeiten konstituierten.
Das eine ist die Messfeier der mittelalterlichen Kirche, bei
der der Priester, assistiert von Ministranten, die Messe vor
den Augen der Gläubigen zelebriert, während er die
Einsetzungsworte spricht. Der Schmuck des Tischs des Herren
mit Altartuch, Leuchtern, Kelch und Patene war nicht grundsätzlich
anders als die Gestaltung der öffentlichen Tafel. Indem
die Gläubigen die Handlungen andächtig verfolgten,
hatten sie an der Messfeier teil und wurden in die Ge-meinschaft
mit einbezogen. Die offene Tafel fand unmittelbar nach der
Messe statt und war auf diese Weise zeitlich und semantisch
eng mit der geistlichen Handlung verbunden.
Eine andere mögliche Erklärung für die offene
Tafel bietet sich durch die weitgehende Angleichung ihres
Zeremoniells an die Erbhuldigung oder Krönungsfeier,
mit der Fürsten in ihr Herrscheramt eingesetzt wurden.
Das Herrschermahl war integraler Bestandteil aller Krönungsfeierlichkeiten.
Die Tafel des Herrschers war dazu auf einer Estrade gedeckt.
Es war die erste Aufgabe der Inhaber der Hofämter, den
an die Macht gekommenen Fürsten zu bedienen. Das Publikum
nahm hier - wie bei der offenen Tafel durch eine Barriere
von dem Geschehen getrennt - an der Feier teil und verfolgte
schweigend das Geschehen. Insofern war die offene Tafel eine
Wiederholung der Erbhuldigung und eine Art Reinszenierung
der Einsetzungsfeier, welche die Legitimation des Herrschers
darstellend unterstreichen sollte. Damit sind die beiden wesentlichen
Bedeutungsfelder benannt, in deren Spannungsbereich sich die
offene Tafel vollzieht. Zugleich ist damit aber auch angedeutet,
aus welchen Gründen diese Handlungen uns heute weitgehend
unverständlich geworden und daher in Vergessenheit geraten
sind: Ihr Ziel war die Demonstration von Kontinuität
und Legitimität der Herrschaft.
Die öffentliche Tafel ist
eng mit den Residenzen und Schlössern verbunden, welche
der Sitz der höchsten legislativen und exekutiven Gewalt
im Staate waren. Sie beherbergten die Hofämter und hielten
den fürstlichen Familien Raumfolgen zum Wohnen bereit.
Hauptresi-denzen waren Winterschlösser, die vom Oktober
bis in den Mai hinein bewohnt wurden. In ihnen fanden Staats-
und Hofzeremoniell zugleich ihre strikteste Observanz. Während
der langen Aufenthalte von Mai bis Oktober in den Sommerschlössern
fanden dort auch offene Tafeln statt jedoch mit einer reduzierten
Entfaltung des Zeremoniells. Da alle Residenzen eine ähnlich
geartete Abfolge von Räumen, die sogenannten Appartements,
aufwiesen, konnte jeder Besucher in Europa sich einigermaßen
leicht in den Schlössern der Herrscher zurechtfinden.
Der Zugang dorthin war dem Publikum nicht versperrt. In diesen
Räumen fand die öffentliche Tafel statt, die tatsächlich
im Sinne des Wortes "öffentlich" war. Im Prinzip
konnte jeder an dem Ereignis teilnehmen: Männer und Frauen
soweit sie sich nicht in Umhänge hüllten oder von
schweren Krankheiten gezeichnet waren. Erst zwischen Rit-tersaal
und erstem Vorzimmer lag eine Grenze, die nicht von jedermann
überschritten wer-den konnte. Entweder hier oder dort
fand die öffentliche Tafel statt.
Am Hof von Versailles sah es anders
aus, dort hatte ein jeder Franzose oder auswärtige Gast,
der den König öffentlich speisen sehen wollte, sich
mit einem Hut und einem Degen zu versehen, sonst wurde er
zur Tafel nicht zugelassen. Diese Requisiten waren auch leih-weise
in Versailles zu bekommen. Zudem war es eine Aufgabe der zahlreichen
Publikatio-nen und graphischen Darstellungen, die um diesen
Akt des Hofzeremoniells herum entstan-den, Öffentlichkeit
herzustellen und nach außen zu tragen. Sie waren Veröffentlichungen
im wahrsten Sinne des Wortes.
Im zunehmenden Prozess des Verlustes
der eigenen Geschichte sind uns heute Verhaltensweisen und
Handlungen des Mittelalters wie der frühen Neuzeit unendlich
ferngerückt. Sie gelten als kaum mehr vermittelbar. Zu
Anfang des 21. Jahrhunderts kann eher Wissen über den
sibirischen Schamanismus oder Einsichten in Stammesbräuche
des mittleren Amazonasgebietes vorausgesetzt werden, als dass
man Kenntnisse über entlegenere Gebiete der eigenen Geschichte
erwarten könnte.
Das Bild der höfischen Gesellschaft
bleibt eigentümlich verzeichnet. Während wir von
der Annahme ausgehen, dass die Länder rechts des Rheins
in einem ihnen eigentümlichen Naturzustand verharrten,
glauben wir zugleich, dass Etikette und Hofzeremoniell sich
am Hofe der französischen Könige zu voller Blüte
entfaltet hätten, bis sie dann zur Zeit Ludwigs des XIV.
als Kulturimport eifrig von den anderen europäischen
Völkern übernommen worden seien. Dieses Bild des
Imports französischer Sitten und Formen im späten
17. Jahrhundert wird bis in die Geschichtsbücher hinein
gepflegt.
Vieles, was an Urteilen in den
Köpfen herumspukt und sich auf die Zeit der absolutistischen
Fürstenstaaten bezieht, geht auf die Schilderungen Eduard
Vehses über die deutsche Hofgeschichte zurück. Vehses
"Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation"
erschien in 48 Bänden zwischen 1851 und 1861 und fand
ihren Niederschlag in der Geschichtsschreibung des wilhelminischen
Deutschland. Dieser war es ein Hauptanliegen, die deutschen
Fürstenstaaten vor der Einigung des Reiches und vor dem
Wiener Kongress aus der Sicht des Bürgertum und des Nationalstaates
der Lächerlichkeit preiszugeben. Das damals gezeichnete
Bild gehört zum Grundinventar bürgerlicher Aufklärung.
Einsichten und Begriffe über diese Themen sind stark
von Norbert Elias geprägt, dessen Darstellung über
den Prozess der Zivilisation ein weit verbreiteter Klassiker
der Zivilisationsgeschichte ist. Seine Beschreibung der höfischen
Gesellschaft, die 1969 in zwei Bänden erschien, agiert
vor allem mit französischen Exempeln und beschäftigt
sich mit der Entwicklung der Tischsitten und dem Sexualverhalten
der Fürstenhöfe Europas. Elias verfolgte das Thema
des Tabus, die Tendenzen zunehmender Selbstbeherrschung und
nach außen gekehrter Höflichkeit bis hinein in
europäische Verhaltensweisen der Courtoisie.
Norbert Elias' idealtypische Bilder
bleiben in der Ausstellung und in den dazugehörigen Essays
zur Zivilisationsgeschichte weitgehend unberücksichtigt.
Dies kann als Indiz dafür gelten, wie fern die Erklärungsmuster
inzwischen der historischen Wirklichkeit und den Bedeutungssystemen
der Epochen selbst gerückt sind. Der Klassiker hat in
der neueren Forschung sein Bedeutungsmonopol weitgehend verloren.
Die Sprache der Dinge und Dokumente fordert andere Erklärungen.
Das Thema der öffentlichen Tafel ist nicht mit Formen
der "Höflichkeit" oder des "guten Benehmens"
zu erklären. Weit jenseits aller Prinzipien der Individualität
und der Persönlichkeit ist es ein System, dem es auf
die nicht verbale Darstellung von Macht mit friedlichen Mitteln
ankam.
Bei der Ausbildung der öffentlichen
Tafel haben die italienischen Fürstenhöfe und der
Hof der Habsburger in Wien eine entscheidende Rolle gespielt.
Über das Mittelreich Burgund wurden die Sitten auch am
Hof der französischen Könige aus dem Hause Valois
und Bourbon übernommen, was in der Zeit um 1580 unter
Heinrich dem III. in besonderer Weise geschah. Die gemeinsamen
Vorläufer dazu liegen im Mittelalter. Eine fest kodifizierte
Form hatte sich im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert bereits
in ganz Europa herausgebildet. Im geographischen Raum zwischen
Italien und Schweden, Russland und Portugal galten in Grundzügen
die gleichen Bräuche, wobei entstehende Unterschiede
in besonderer Weise beobachtet und kolportiert wurden, um
aus den abweichenden Nuancen neue Formen und damit verbundene
Ansprüche abzuleiten. Die stumme Sprache der Dinge der
öffentlichen Tafel ist eine Kommunikationsform, die das
durch nationale Sprachen getrennte Europa gemeinsam entwickelte,
um sich in seinem Staatenleben untereinander darzustellen
und zu verständigen. So nimmt es nicht Wunder, dass beispielsweise
Augsburger Silber die fürstliche Tafel in Moskau zierte
oder kostbares Gerät aus Paris gleichermaßen in
Dänemark und Portugal zur Verwendung kam. Die Sprache
der Dinge wie auch die Formen der Stile waren stets eine gesamteuropäische
Angelegenheit und standen in ihrer Ausprägung und Entwicklung
im europäischen Kontext.
Investitionen in Tafelgerät,
das in einigen Fällen gerade aus den Randbereichen Europas
auf uns überkommen ist, waren gewaltig. Der Aufwand an
Material und Arbeit, der für diese Staatsservice betrieben
wurde, übersteigt heute jede Vorstellung. Das meiste
davon ist zugrunde gegangen. Nur in wenigen Schatzkammern,
Silberkammern oder Nationalmuseen haben sich bis heute Teile
davon bewahrt. Es ist zahlreich bezeugt, dass wenn Kriege
das Land überzogen, Kriegskontributionen zu erbringen
waren oder der Sold stehender Heere auszuzahlen war, es an
das Tafelsilber ging. Das Silber, welches zuvor gemeinsamen
Mahlzeiten gedient hatte, wurde in Stücke gehackt und
in der Münze zu Geldstücken geschlagen. Geld und
Silber sind in vielen europäischen Staaten daher heute
noch gleichbedeutend.
Tafelgeräte aus Silber, vergoldetem Silber oder Gold
erfuhren in der Kulturgeschichte eine besonders traditionsbezogene
und daher kontinuierliche Entwicklung. Sie bildeten stets
den kostbarsten Besitz eines Hauses. Über sie wurde in
besonderer Weise verfügt. Silber war fast nie dem individuellen
Gebrauch oder einem Ich-bezogenen Luxusgebaren unterworfen.
Es spielte, bezogen auf menschliche Gemeinschaften, eine ganz
besondere Rolle. Es unterlag nicht den Capricen der Tagesmoden,
sondern blieb Investition für die Zukunft. Silbergeräte
wurden von Gemeinschaften in Auftrag gegeben und in diesen
von Generation zu Generation weitervererbt. Gemeinschaftlich
besessenes Silbergerät stiftete Identität in gesellschaftlichen
Verbindungen wie Familien, fürstlichen Häusern,
Zünften, Gilden, Kirchengemeinden, Klöstern, Universitäten,
bis hin zu Vereinen oder Clubs. Im Mittelalter wo die benediktinischen
Lebensregeln bis weit in die private Lebensführung reichten,
galt das Ge-setz: omniaque omnia sint communia ut scriptum
est - alles sei allen gemeinsam, so wie es geschrieben ist.
Staatssilber war ebenso gebräuchlich
wie Ratssilber und wurde bei den großen Essen verwendet,
zu denen sich die Mitglieder zusammenfanden, um ihre Gemeinschaft
zu bestätigen oder neue Verbindungen und Verträge
einzugehen, die durch gemeinsames Essen zelebriert wurden.
Dies geschah stets angesichts des Silbergeräts, das mit
der Geschichte der Gruppe verbunden war und in die Zukunft
weitergegeben wurde. Bisweilen wird bis heute Silberge-rät
als singuläres Einzelstück mit Erinnerungsqualität
gefertigt, um an eine Begebenheit o-der ein personenbezogenes
Geschehen zu erinnern. Silber und damit auch Tafelsilber,
lässt sich ohne Übertreibung sagen, war stets ein
Material der Geschichte, und Silber ist ein historisches Element.
Es sollte an den Stifter erinnern und ist in der Regel mit
seinen Initialen, dem Anschaffungsjahr oder dem Wappen geziert,
um es über die Zufälle des Tagesgeschehens hinauszuheben.
In seiner Geschichte wurde Silbergerät
nur an ganz bestimmten Orten und in besonderen Aufstellungen
gebraucht, denen die Ordnungsprinzipien zugrunde lagen, welche
auch sonst bei den zeit- und stilgebundenen Arrangements der
Dinge zur Anwendung kam. In einigen seltenen Fällen haben
sich festeingebaute Buffetsituationen bewahrt. Zu nennen sind
die Buffets von 1590 im Antiquarium der Münchener Residenz,
die Buffetnischen in Ansbach und das große Silberbuffet,
das aus dem Berliner Schloss stammt und heute zwischen Schloss
Köpenick, Charlottenburg und dem Kunstgewerbemuseum hin
und her geschoben wird.
Am wichtigsten bleibt jedoch der
Gebrauch des Silbers beim Speisen. Tafel und Buffet verfolgen
in ihrer Aufstellung gleichermaßen das dort entwickelte
Prinzip der achsensymmetrischen, hierarchisch zur Mitte hin
geordneten Anordnung, ein System, welches mit dem absolutistischen
Fürstenstaat der Neuzeit einhergeht. Bei all diesen Ordnungen
gilt die Symmetrie der Abfolge und die Einheitlichkeit der
Wirkung als das Ziel. Seit 1550 werden alle Stücke, die
zusammen in ein Erscheinungsbild geordnet werden oder in einem
Gebrauchszusammenhang stehen, durch eine einheitliche Gestaltung
dominiert, die Material, Stil und Ornamente zu einer Einheit
verbindet. Die Hierarchie der Rangfolge und das gegensätzliche
Prinzip der Gleichheit aller Tischgenossen fand seinen vollkommenen
Ausdruck in der Be-ziehung zwischen Zentrum und Peripherie
der Tafel.
Die Ausstellung hat sich aus der
Erforschung des Staatssilbers, seinen Formen, seines Gebrauchs
entwickelt. Der Forschungsansatz ging von der Beschreibung
des Erhaltenen aus und drang dann mehr und mehr zu den Prinzipien
und zum Bedeutungskern der kostbaren Objekte vor. Eine erste
Formulierung fand das Thema durch eine Ausstellung in Paris:
"La table d'un roi", 1987, die das erhaltene Staatssilber
der dänischen Königin in den Mittel-punkt stellte.
Die von Ole Villumsen Krog und Gérard Mabille initiierte
Ausstellung ver-suchte sich erstmals in der Rekonstruktion
überlieferter Erscheinungsbilder, um daraus auf den Gebrauch
zu schließen. Dass dies auch weiterhin ein fruchtbares
und ergebnisreiches Feld wissenschaftlicher Forschung sein
würde, ergab sich aus der Ausstellung selbst. Auf Initiative
von Ole Villumsen Krog und Alain Gruber, der damals Direktor
der Abegg-Stiftung war, trat unter dem Namen "Royal and
Princely Tables" in Bern 1989 erstmals eine lose gefügte
Gruppe zusammen. Die fruchtbare Zusammenarbeit und ein gemeinsamer
Forschungsschwerpunkt führten in den verschiedenen europäischen
Ländern zu Publikationen und großen Ausstellungen
zu diesem Thema. Zu nennen sind die Ausstellung "Die
anständi-ge Lust - Von Eßkultur und Tafelsitten",
die 1991 am Münchener Stadtmuseum entstand. Ihr folgte
1993 eine groß angelegte Ausstellung in Versailles "Versailles
et les tables roya-les", die vom französischen Staat
getragen wurde. Sie brachte die großen Service, die
sich auf Frankreich bezogen, zur Darstellung. Winfried und
Ilse Baer, die von Anfang an zu die-ser Forschungsgruppe gehörten,
inszenierten entsprechend ihren wissenschaftlichen Einsichten
eine Reihe von Ausstellungen zur Tafelkultur in Berlin. Lorenz
Seelig setzte diese Prinzipien in eine Ausstellung über
Augsburger Silber um, welche 1994 am bayrischen Nationalmuseum
zu sehen war. Peter Parenzan und Ilsebill Barta-Fliedl ermöglichten
durch Leihgaben aus der Silberkammer der Habsburger 1991 und
1995 weitere Ausstellungen in Wien und Frankfurt. Ausstellungen
in Kassel zu silbernem Tafelgerät namentlich "Katharina
die Große" und "Kasseler Silber" 1997
und 1998 setzten die wissenschaftlichen Beschäftigung
mit dem Themengebiet der Hoftafel fort. Zunehmend verdichtete
sich dabei die Einsicht, dass im Zentrum aller Beschreibungen
die sprachlich schwer zu fassende offene Tafel stand, also
die hochoffizielle Form der Mahlzeit des Herrschers vor der
versammelten Öffentlichkeit, aus der später die
Galatafel oder das Staatsessen hervorging.
Die Ausstellungen in Paris und
Versailles beschrieben mit großer Deutlichkeit und unter
Verwendung zahlreicher Beispiele die Entwicklung der französischen
Service, wobei das Wort durchaus in seinem Doppelsinn zu gebrauchen
ist. Sie entlasten damit unsere Ausstellung in Berlin, die
sich auf die europäischen Höfe und ihre Gebräuche
konzentriert, welche nicht direkt französischem Einfluss
unterworfen waren.
Die erhaltenen Zeugnisse der historischen
Wirklichkeit - also Bildquellen, Beschreibungen und die Objekte
selbst - lassen, für sich betrachtet, in der Regel den
Zusammenhang, in dem sie standen, nicht erkennen. Erst die
Kombination von Dingen, Worten und Bildern vermag die Bezügen
wieder herzustellen. Gemeinsame Tendenz all dieser Ausstellungen
und der entsprechenden Erörterungen war es daher, das
überlieferte historische Objekt aus seiner formal ästhetischen
Vereinzelung herauszulösen und in den größeren
Kontext seines Gebrauchszusammenhanges und der Präsentationsformen
zu stellen, um damit zur Bedeutung der Dinge und ihrem konkreten
historischen Gebrauch vorzustoßen. Dies lässt sich
durch die Präsentation in Vitrinen, wo die Stücke
nach Größe geordnet und nach Typen vereinzelt stehen,
in der Regel nicht erreichen. Hier gilt es, der äußeren
Form nach in Teil- oder Gesamtrekonstruktionen an das ursprüngliche
Spiel zwischen dem System der Aufstellung und den Einzelformen
zu erinnern, die immer wieder zu überraschenden Einsichten
und Ansätzen führen, aus denen neue Fragen entstehen.
Die Ausstellung ist ein weiterer
Versuch, zum Bedeutungskern der höfischen Mahlzeit vorzudringen.
Sie zeigt keine Rekonstruktion konkreter, historisch fassbarer
Situationen. Vielmehr veranschaulicht und interpretiert sie
exemplarisch dem Studium verschiedenen Quellen entnommene
Grundsituationen, wie sie geschichtlich aufeinander folgen
und verschiedenen Epochen kennzeichnen. Eine gewisse Beschränkung
war bei der Ausstellungskonzeption von vornherein beabsichtigt.
So war es unser Anliegen, die Hauptentwicklung zwischen dem
Mittelalter und dem 20. Jahrhundert in seinen Grundzügen
aufzuzeigen und entlang einer chronologischen Abfolge zu entwickeln.
Gleichzeitig wird auf die Elemente der Tafel verwiesen, die
sich als Typen über die Jahrhunderte bewahrt haben und
immer wieder in ähnlicher Weise und Absicht gebraucht
werden.
Die Objektüberlieferung unterwarf
die Ausstellung einer zeitlichen Beschränkung. Sie setzt
im 16. Jahrhundert dann jedoch mit einer Fülle von Objekten
ein. Nach den Religionskrie-gen und Notzeiten des Dreißigjährigen
Krieges entstand zwischen 1680 und 1700 eine zweite Blüte
materieller Kultur. Auch das 18. und 19. Jahrhundert sind
in hervorragender Weise tradiert und lassen sich in all ihren
Überlieferungssträngen darlegen.
Es sind gerade die Grenzterritorien
der Fachdisziplinen der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte,
welche die besten Ergebnisse hervorbringen. Anliegen der Ausstellung
ist es Verhaltensmuster offen zu legen, die überlebt
haben, und scheinbar verborgene Dinge zum Sprechen zu bringen.
Das gemeinsame Mahl ist sowohl im religiösen wie im soziologischen
Bereich so eng mit unserer Geschichte verwoben, dass es eine
große Distanz braucht, um diese als Gegenstand der Kulturgeschichte
zu erkennen und in Erklärungsversuche einzubeziehen.
Hans Ottomeyer
Generaldirektor des Deutschen Historischen
Museums
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