Kein Motiv ist so häufig fotografiert worden wie das menschliche Antlitz. Schon wenige Jahre nach Erfindung der Fotografie 1839 wurde es durch die Porträtateliers zum Hauptthema. Die Zeitschrift »Photographischer Correspondent« vermerkte bereits 1865: »Gegenwärtig ist es auch dem ärmeren Bürger möglich gemacht, seinen Nachkommen das getreue Bild seiner Gesichtszüge und seiner Person zu hinterlassen.«
Ein Fotoalbum zu besitzen war bereits um 1900 verbreitet. In ihm fanden sich die Familien aus bürgerlichen Kreisen zu einem großen Gesellschaftspanorama zusammen. »Vielleicht waren die Photographien in den Alben unserer Väter und Großväter ehrlicher: die erkennbare Kulisse, die Künstlichkeit der Pose, der Komposition, des Arrangements war humaner als der Schnappschuss.« so schrieb Heinrich Böll 1964, denn im Wort Schnappschuss seinen zwei Gewaltverben vereint: »schießen und zuschnappen.«
Nach der dokumentarischen Leidenschaft der ersten Jahrzehnte, Bildnisse getreu nach dem Leben anzufertigen, tritt die Fotografie bald als Gestalter neuer Menschenbilder auf. Ihr gesellschaftlicher Einfluss auf Vorstellungen von emanzipatorischen oder ausgrenzenden Menschenbildern ist nicht zu unterschätzen. Die Porträtfotografie formt und beschreibt Höhen und Abgründe konkurrierender Menschenbilder in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
»Der Aushängekasten des Photographen ist nicht der unsicherste Berater über die Kulturhöhe einer Stadt. Er zeigt die ästhetische Höhe, den Geschmack, die Selbstschätzung, die Wirkung der Zeitströmung, vor allem der Mode.« so hieß es 1927 im »Hamburger Fremdenblatt«.
Die in der Ausstellung gezeigten Porträts sind somit auch Ausdruck ihrer Epoche. Sie verweisen über sich selbst hinaus auf die Gesellschaft und auf das Leben im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, unter der NS-Diktatur und auf die unterschiedlichen Verhältnisse im geteilten Deutschland. Obwohl die Porträts zunächst jeweils nur als Bildnis eines einzelnen Menschen erscheinen, geben sie im Kontext zueinander Kunde von wechselnden Menschenbildern. Für die gesellschaftliche Wirkung eines Porträts ist entscheidend, ob es zehn oder 10 000 Mal reproduziert wurde. Die Verbreitung ist letztlich Indikator für seine Leitbildfunktion.
»Das Paradoxe an der Suche nach dem gültigen Menschenbild mit den Mitteln der Fotografie ist die Gewissheit, dass erst aus der zeitlichen Distanz das Eigentliche sichtbar wird« schrieb Christoph Stölzl 1991 in einem Ausstellungskatalog des DHM: »Soziale Fotografien müssen altern, damit wir das Unwiederbringliche auf ihnen erkennen lernen.«
Im chronologischen Verlauf der Ausstellung schaut man in über 550 Gesichter: Herausragende Einzelwerke finden sich vor allem in den 1920er Jahren mit Fotografien von Yva, Suse Byk, Lotte Jacobi, Germaine Krull, August Sander oder Anton Sahm (Foto oben). Mit größeren Fotoserien sind in der Ausstellung unter anderem vertreten: Emil Bieber, Walter Ballhause, Heinrich Hoffmann, Erna Lendvai-Dircksen, Liselotte Orgel-Köhne, Tita Binz, Yousuf Karsh, Edmund Kesting, Barbara Niggl Radloff, Stefan Moses, Michael Ruetz, Konrad R. Müller, Hans Martin Sewcz, Helga Paris, Richard Schulze-Vorberg, Gundula Schulze Eldowy und Angelika Kampfer. Am Ende der Ausstellung bietet ein voll funktionsfähiger Fotoautomat aus den 1960er Jahren die Möglichkeit, zur Erinnerung ein aktuelles Bild von sich selbst anfertigen zu lassen.
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Fotoband zur Ausstellung
Das Porträt im XX. Jahrhundert.
Fotografien aus der Sammlung des Deutschen Historischen
Museums,
Mit einer Einleitung von Dr. Enno Kaufhold
228 Seiten, 261 Abbildungen (Duoton, 22 in Farbe)
Preis im Museumsladen des DHM: 25 €
Link: Katalog
im Museumsladen des DHM
Vorträge
Gesichter des XX. Jahrhunderts
Das fotografische Porträt als Spiegel des Gesellschaftlichen
Dr. Enno Kaufhold spricht im Auditorium des Pei-Gebäudes
Mittwoch, 22. Februar 2006, 18 Uhr.
Eintritt frei
Dies Bildnis ist bezaubernd schön...
Die Ästhetik des Porträtfotos
Dr. des. Andreas Quermann spricht im Auditorium des Pei-Gebäudes
Mittwoch, 29. März 2006, 18 Uhr.
Eintritt frei
Vom Porträt zum Image
Der Wandel des Bildnisses im 20. Jahrhundert
Prof. Klaus Honnef spricht im Auditorium des Pei-Gebäudes
Mittwoch, 05. April 2006, 18 Uhr.
Eintritt frei
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