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Walther Rathenau interpretierte historische Vorgänge nach
dem Muster von Prozessen, wie sie in der Naturwissenschaft beobachtet
werden. Der Prozeß der Verbindung zwischen den beiden Schichten
"geschichteter Völker", zum Beispiel ist »ein
Vorgang, dem Phänomen vergleichbar, wenn zwei Flüssigkeiten
hoher chemischer Affinität durch Mischung in Reaktion treten«.61
Analogien dieser Art, die sich in großer Zahl finden, werden
durchaus mit Absicht gebraucht, da ein auf naturgesetzliche Zwangsläufigkeiten
reduzierter historischer Prozeß zwar die Freiheit der Einzelhandlungen
beschneidet, zugleich jedoch auch die Irritationen und Unsicherheiten
beseitigt, die in diesen Handlungen liegen: »Denn die Einreihung
in ein größeres und einfacheres Gesetz streift zwar
von heroischen Ereignissen einen Teil des Zufälligen und
Willkürlich-Freien ab, sie läßt es aber um so
mehr als ein Notwendiges und Zuverlässig-Sicheres erkennen
und stärkt unsre Zuversicht ... «68 Ein Ergebnis dieser
Naturalisierung der Geschichte findet sich in Rathenaus Analyse
des mechanisierten Produktionsprozesses, den er nach Analogie
des physikalischen Prinzips der Elektrodynamik beschreibt, wenn
es heißt, daß dieser Prozeß »die Tendenz
(habe), in unablässiger Selbsterregung den Umtrieb zu steigern«.69
Diese unendliche Steigerung von Produktion und Konsum findet zwar
in »Warenhunger« und »Gerätetollheit«70
ihr subjektives Korrelat auf der Seite der Konsumenten, scheint
aber auf der Seite der Produktion vollständig von ihren gesellschaftlichen
Grundlagen abgelöst. Nur der Hinweis auf die Analogie zu
»anderen undurchgeistigten oder irrationalen Prozessen ähnlicher
Art - wie zum Beispiel dem Prozess der persönlichen Bereicherung
oder des Ausbaus von Unternehmungen«71 - gibt einen sicher
ungewollten Einblick in einen Zusammenhang, den Rathenau
durch die Entscheidung, ins Zentrum seiner Theorie der
Entstehung der Neuzeit die Technologie, nicht jedoch das Privateigentum
an Produktionsmitteln zu stellen, von vorneherein ausgeblendet
hat. Wenn es an einer einzigen Stelle heißt, daß »in
fast höherem Maße als die Stumpfheit der Massen die
Begehrlichkeit gewissenloser Wirtschaftsführer es ist, welche
die Mechanisierung aufpeitscht, indem sie unnötige Bedürfnisse
schafft und verstärkt« 72 dann ist damit zwar ein Gegenstück
zum »Warenhunger« gefunden, aber noch kein Ansatzpunkt
für eine Interpretation des kapitalistischen Reproduktionsprozesses
jenseits von naturgesetzlicher Objektivität und subjektiver
Willkür.
Der historische Prozeß bleibt vom Bewußtsein der Menschen
seltsam unberührt, denn »der Weg des Geistes von der
Naturbetrachtung zur Naturberechnung (... ), der Weg der Wirtschaft
vom Einzelbetrieb zur Organisation, der Weg der Arbeit
Fußnoten
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