Sichtbare Zeit 1965 bis 1995
Die Räume der Ausstellung
Von 1964 bis 1976 porträtierte Michael Ruetz in Deutsche Charaktere
das, was er in Gesamt-Deutschland sah und was für ihn dieses Land
war. Seinen Blick richtete er sowohl auf die Bundesrepublik Deutschland als
auch auf die DDR, auf historische und zeitgenössische Phänomene.
Während in der Bundesrepublik Deutschland die Studenten den Aufstand
gegen die "Institutionen" probten, versuchte man in der DDR
neben den staatlich verordneten Feiern und Festen eine Nische zu finden.
Die Anordnung der Photographien folgt weder chronologischen noch
historisch-politischen Zusammenhängen. Stattdessen provoziert sie
überraschende ästhetische Analogien und Assoziationen.
Die Serie Leben und Sterben beginnt mit Photographien des
Konzentrationslagers Auschwitz, mit dem sich Michael Ruetz schon
in den späten sechziger Jahren beschäftigt hat. Die hier
gezeigten Aufnahmen zählen zu den frühsten, die zu diesem
Thema entstanden sind.
Mitte der siebziger Jahre wagte sich der Photograph mitten in das
Erdbebengebiet von Peru und das Kriegsgebiet von Guinea-Bissau.
Mit großer Einfühlungskraft und Zurückhaltung
begleitete er die Menschen in diesen Krisengebieten mit
seiner Kamera. Bedingt durch die Erkenntnis, daß die von den
Medien geforderte schnelle Produktion von Bildern niemandem wirklich
helfen kann, verlor er das Interesse am Journalismus. Sein Gegenstand
wurde die "Zeit" und die "Vergänglichkeit".
Liebe und Tod war das erste Projekt zum neuen Thema. 1978 erschien
eine Auswahl von Bildern (aus der bis heute fortgesetzten Arbeit) unter
dem Titel Nekropolis (Stadt der Toten).
Zu sehen sind Nekropolen aus dem Mittelmeerraum. Die Fundstellen
bleiben aus Gründen der Diskretion ungenannt. Liebe und Tod
belegt, wie sich die Lebenden ein Gemeinwesen vorstellen, in dem sie nach
ihrem Tode bleiben wollen. Auch dort wird gewohnt, gearbeitet und geliebt.
Aus seinen Studien über die Augenwelt des Malers Caspar David
Friedrich sowie den Dichter Johann Wolfgang von Goethe oder Dylan Thomas
leitete Michael Ruetz sein sogenanntes "rephotographisches Verfahren"
ab. An Orte, die der Photograph selbst in den sechziger Jahren ablichtete,
kehrte er 30 Jahre später zurück, um sie ein weiteres Mal
abzubilden. Die so entstandenen Bildpaare zeigen die Zeit, die
Vergänglichkeit, die Erinnerung, vor allem aber die Veränderungen
unserer sichtbaren Umwelt. Sie sagen, wie viel verloren und gewonnen wurde.
Mit dem Projekt Timescape fing Michael Ruetz 1975 an. Er hat es
mit dem Ziel begonnen, ein zuverlässiges Instrumentarium zu schaffen,
welches Veränderungen in der Zeit sichtbar machen kann und zugleich
rephotographischen Studien in der Zukunft eine verläßliche
Basis geben soll. Im Unterschied zum Zweiten Blick
besteht diese Arbeit nicht aus zwei, sondern aus mehreren, maximal 25
Phasenbildern. Der Beobachtungszeitraum wurde auf 25 Jahre begrenzt.
Das Projekt soll um das Jahr 2015 enden und umfaßt im Moment etwas
über 300 Bildreihen. Schon jetzt ist zu sehen, wie sehr sich die
Menschen, die Orte, die Plätze, die Wohnungen, selbst die Natur
wandeln. Unwandelbar bleiben der geographische Standort und der Name
des Gegenstandes.
Die Serien Timescape enthalten im wesentlichen Beispiele aus
Deutschland bzw. der Mitte Europas. Sie erfassen den Raum, der durch
Rotterdam im Westen, durch Bautzen im Osten, durch Carolinensiel im
Norden und durch das Brennertal im Süden begrenzt wird.
Innerhalb dieser großen Fläche gibt es mehrere hundert Fixpunkte -
in Berlin sind es 177 -, von denen aus die ausgewählten Objekte in
regelmäßigen Abständen photographiert wurden und werden.
Das Deutsche Historische Museum zeigt eine Auswahl, die im wesentlichen
aus dem Raum Berlin stammen, da der Berliner Teil die Intentionen des
Projektes am ehesten augenfällig macht.
Der Unverwandte Blick entwickelt den Gedanken der Projekte
Der Zweite Blick und Timescape
weiter. Die Idee, den flüchtigen Blick durch permanente Betrachtung
zu ersetzen, ist allen drei Projekten gemeinsam.
Diese Arbeit steht dementsprechend unter dem von Max Beckmann formulierten
Motto: "Willst Du das Unsichtbare fassen, dringe, so tief Du kannst,
ein in das Sichtbare". Bei Timescape wurde
festgelegt, daß eine Vielzahl von Objekten mit maximal 25 Phasenbildern
belegt wird. Beim Unverwandten Blick ist die Anzahl der Phasenbilder
unbeschänkt.
Das Projekt wurde 1989 begonnen. Es umfaßt zur Zeit 401 Bilder und wird
in seiner Endfassung auf 144 plus 12 reduziert werden. Die hier gezeigten
Beispiele sind in ihrer Variationsbreite, was Licht und Farbe angeht, typisch
für den Gesamtcorpus.