Victoria und Hinzpeter waren der Ansicht, daß die hohe Geburt des Regenten nicht nur ein Mehr an Rechten bedeutet, sondern vor allem größere Verantwortung. Das ererbte Recht mußte sich täglich neu legitimieren. Hieraus ergab sich für die Prinzenerziehung ein höherer Anspruch: Vorteile durch Geburt sollten verstärkt durch Leistungsnachweise ergänzt werden.11 Der künftige Regent sollte den Blick für übergeordnete Zusammenhänge besitzen; Voraussetzung dafür war eine vielfältige Bildung. Sie sollte mit dem Unterricht in den alten und modernen Sprachen, Kunstgeschichte und Naturwissenschaften beginnen. Es ging nicht mehr um die einseitige Vorbereitung auf höfische Repräsentation und militärische Aufgaben, sondern um die freiere, umfassende Ausbildung, das heißt den Schul- und Universitätsbesuch. Der ungewohnt offene Umgang Wilhelms mit Menschen nichtadeliger Herkunft12 sollte ihn zu einer klaren Erkenntnis seiner neuen Pflichten führen13, denn er konnte hier unmittelbar erleben, was der Begriff Leistung beinhaltet. Während der Kontakt mit der unteren Klasse, also Arbeitern und deren Familien, den Prinzen dazu bringen sollte, praktisches Mitgefühl zu entwickeln, war der Umgang mit der mittleren Klasse, Lehrern und Schülern bürgerlicher Herkunft, dazu bestimmt, Wilhelms Leistungsmotivation zu fördern.14 Willensstärke, Kenntnisreichtum, Überzeugungskraft und die daraus resultierende Unabhängigkeit sollten Wilhelm, so Victoria, allen Widerständen zum Trotz, zu einem Träger des Fortschritts machen. NeuorientierungGerade in dieser Hinsicht erwies sich Queen Victoria (1819-1901, reg. 1837-1901) als unentbehrliche Verbündete. Dies war um so wichtiger, als das bürgerlich-fortschrittliche Erziehungsprogramm der Mutter bald mit der preußischen Erziehungstradition in Konflikt geriet. Der alte Kaiser nämlich, für den Wilhelm grenzenlose Bewunderung hegte, hielt wenig von gelehrter Bildung und förderte mit der frühen Übertragung militärischer Repräsentation noch den Stolz des jungen Prinzen. Wilhelm wurde nach hohenzollerischer Sitte am zehnten Geburtstag von seinem Großvater als Sekondeleutnant in die Leibkompanie des renommierten "1. Garderegiments zu Fuß" eingeführt.15 Der Monarch zeigte damit allen, daß dem Kaiserenkel Respekt gebührte. Genau diese Art von Standesstolz, der von ihr als typisch preußische Arroganz empfunden wurde, bekämpfte Queen Victoria. Wilhelm sollte ein guter, kluger und liberal denkender Mann werden und kein eingebildeter Preuße.16 Es bestand ein großer Unterschied zwischen der zivilen englischen Monarchie und der militarisierten preußischen, und Queen Victoria fehlte natürlich jegliches Verständnis für die traditionelle militärische Ausbildung der preußischen Prinzen. Bereits im August 1868 teilte sie die Sorgen ihrer Tochter:
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