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Deutschland ist ein Zuwanderungsland.
Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wird dieser Tatsache politisch
Rechnung getragen. Damit hat die Diskussion um Zuwanderungsfragen
einen vorläufigen rechtlichen Abschluss gefunden, indes in
ihrer politischen Bedeutung kaum an Aktualität verloren. Nur
selten reicht dabei der Blick zurück über die letzten
Jahrzehnte hinaus. Mit den beiden zeitgleichen und ineinander verschränkten
Ausstellungen „Migrationen 1500 – 2005“ und „Die
Hugenotten“ möchte das Deutsche Historische Museum das
Bewusstsein dafür schärfen, dass Zuwanderung nach Deutschland
alles andere als ein neues Phänomen ist, sondern vielmehr eine
lange und wenig bekannte Geschichte hat.
Die Ausstellung „Migrationen
1500 - 2005“ spannt einen Bogen von der Frühen Neuzeit
bis in die Gegenwart und stellt dabei die politischen, wirtschaftlichen,
rechtlichen, religiösen und kulturellen Zusammenhänge
von Zuwanderung heraus. Die Darstellung geht von einem weiten Migrationsbegriff
aus. Sie zeigt Wanderhandel und temporäre Arbeitsmigration
ebenso wie dauerhafte Einwanderung, Flucht aus religiösen und
politischen Motiven wie auch die Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts.
Die staatliche Regulierung dieser Bewegungen ist ein Schwerpunkt
der Ausstellung. Unter welchen politischen Prämissen erfolgen
Einschluss und Ausschluss? Welchen Gruppen werden die Einreise,
der befristete Aufenthalt oder aber die vollen Bürgerrechte
gewährt? Dieser Perspektive werden individuelles Erleben, Motive
und Erfahrungen der Migranten gegenübergestellt.
Entgegen landläufigen Vorstellungen
von einer statischen vormodernen Gesellschaft war schon Alt-Europa
ständig „in Bewegung“ (Klaus J. Bade). Die Ausstellung
betrachtet auch die Migrantengruppen dieser Epoche. Bekannt sind
etwa die protestantischen Glaubensflüchtlinge. Heute eher unbekannt
sind viele andere Gruppen, wie z.B. die oberitalienischen Wanderhändler,
die seit dem 17. Jahrhundert nach Deutschland kamen. Zugleich wird
die Ausstellung zeigen, dass in der vornationalstaatlichen Epoche
weitere große Migrantengruppen sich zwischen den deutschen
Partikularstaaten bewegten: Das waren zumeist erwünschte Gruppen
wie die wandernden Handwerksgesellen oder das städtische bzw.
ländliche Gesinde auf der einen, unerwünschte Gruppen
wie die Bettler oder das Fahrende Volk auf der anderen Seite.
Schraubmedaille Salzburger
Emigranten, 1732 |
Auch
nach der Neuordnung Europas 1815 blieb Deutschland ein Land
mit vielen Staaten. Für die Zeit vor der Reichsgründung
1871 stellt die Ausstellung exemplarisch zwei Gruppen vor,
die im Ausland (und das meinte zu dieser Zeit immer noch auch
die anderen deutschen Staaten) Arbeit suchten: Viele erwerbsfähige
Eichsfelder mussten im Sommer z.B. nach Sachsen oder Hannover
wandern, um in der Landwirtschaft oder in Zuckerfabriken zu
arbeiten; andere zogen als Wanderhändler durchs Land.
Die Ziegler des kleinen Fürstentums Lippe, geschätzte
Spezialisten und Saisonarbeiter, reisten zur „Kampagne“
nach Norddeutschland, Holland oder Dänemark. Beide Gruppen
fanden auf Grund der wirtschaftlichen Verhältnisse kein
Auskommen in ihrer Heimat. |
Im Kaiserreich wandelte sich Deutschland zum
„Arbeitseinfuhrland“. Dabei gab es in der staatlichen
Migrations-politik Konflikte um solche erwünschte,
weil wirtschaftlich notwendige Arbeitswanderungen auf Zeit
und um unerwünschte Einwanderungen auf Dauer. Beispielhaft
zeigt die Ausstellung dies an den russisch-polnischen Saisonarbeitern
und den russischen Juden seit den 1880er Jahren.
Die Migrationen des 20. Jahrhunderts sind
geprägt durch Kriege, Flucht und Vertreibung. Bereits
im Ersten Weltkrieg mussten Kriegsgefangene schwerste Arbeiten
verrichten, wie die Ausstellung am Beispiel des Kriegsgefangenen-
und Interniertenlagers Soltau verdeutlicht.
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"Sachsengänger", um 1907 |
Wegen des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels
warb das Reich zivile Arbeitskräfte aus dem Ausland an; andere
wurden unter Zwang nach Deutschland gerbracht.
Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg
kamen Hunderttausende aus den abgetretenen deutschen Gebieten ins
Reich. Gleichzeitig flohen viele Juden vor Pogromen aus Osteuropa.
Sie waren als „lästige Ostjuden“ in der Weimarer
Republik unerwünscht.
Zwangsarbeiter Zweiter Weltkrieg:
Arbeitskräfte werden nach Deutschland transportiert |
Die
Nationalsozialisten setzten eine unmenschliche Bevölkerungspolitik
durch, die sowohl der Rassenideologie als auch kriegswirtschaftlichen
Interessen folgte. Im Zuge dieser Politik wurden deutsche
Volksgruppen umgesiedelt, während „rassisch Unerwünschte“
vertrieben und millionenfach in Vernichtungslagern ermordet
wurden. Das „Dritte Reich“ perfektionierte das
System der Verschleppung von Menschen zur Zwangsarbeit und
der Ausbeutung von Kriegsgefangenen bis zum Tod. Berichte
von Überlebenden geben hiervon eindringlich Zeugnis. |
Der Ausstellungsbereich zur Nachkriegszeit
beginnt mit den großen Fluchtbewegungen in der Folge des Zweiten
Weltkrieges. Der unterschiedliche Umgang mit den Vertriebenen in
West- und Ostdeutschland war ein Element des Kalten Krieges. DDR
und Bundesrepublik behandelten auch in der Folge Zu- und Eingewanderte
in unterschiedlicher Weise. Die DDR warb ausländische Arbeiter
an, um ihren mit der Abwanderung nach Westen gestiegenen Arbeitskräftemangel
zu decken. Als Beispiel werden in der Ausstellung vietnamesische
Textilarbeiterinnen vorgestellt. Migranten in der DDR wurden von
Einheimischen ferngehalten und begegneten oft Fremdenfeindlichkeit–
trotz des offiziell propagierten Internationalismus.
Die Regierung der Bundesrepublik
Deutschland schloss 1955 den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab,
denn im „Wirtschaftswunderland“ drohte Arbeitskräftemangel,
trotz des Zustroms aus der DDR bis 1961. Den Italienern folgten
Griechen, Türken und Jugoslawen. Heute sind die „Gastarbeiter“
vielfach Einwanderer und leben in der zweiten und dritten Generation
in Deutschland, auch wenn ihre Integration jahrzehntelang nicht
aktiv politisch begleitet wurde. Neben dieser politischen Ebene
stellt die Ausstellung individuelle Lebensgeschichten von Einwanderern
vor.
Mann aus Pakistan, Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt,
2000 |
Mit
der Öffnung der Grenzen in Osteuropa 1988/1989 sah sich
die Bundesrepublik mit Zuwanderungen neuen Ausmaßes
konfrontiert: DDR-Übersiedler, Aussiedler/Spätaussiedler
und Flüchtlinge kamen in grosser Zahl ins Land. Die Zahl
temporärer Arbeitsmigranten nimmt nicht erst seit der
Einführung der „Green Card“ im Jahr 2000
wieder zu; schon seit den 1990er Jahren warb die Bundesregierung
gezielt Arbeitskräfte an. Die Ausstellung zeigt exemplarisch
die Erfahrungen rumänischer Saisonarbeiterinnen.
Mit dem Zusammenwachsenn Europas wächst seine Abgrenzung
nach außen. Das wirft die Frage von Einschluss und Ausschluss
besonders in Bezug auf Flüchtlinge und Asylsuchende neu
auf. Der Einschränkung des deutschen Asylrechts und der
zunehmenden Abschließung der EU-Außen-grenzen
werden in der Ausstellung einzelne Schicksale von Asylbewerbern
und von illegal in Deutschland lebenden Menschen gegenüber
gestellt. |
Auf einer Fläche von 500 Quadratmetern
werden rund 300 Objekte zu sehen sein. Dazu zählen Archivalien
und Dokumente ebenso wie Gemälde, Graphiken oder persönliche
Erinnerungsstücke. Audio- und Filmstationen bieten die Gelegenheit,
individueller Geschichte in Selbstzeugnissen nachzuspüren.
Hier wird z.B. ein wandernder Zinngießer aus der Mitte des
17. Jahrhunderts ebenso zu Wort kommen wie eine türkische Schneiderin,
die sich in den 1960er Jahren in West-Berlin niederließ. Eigens
entwickelte Karten zeichnen die Menschen-„Ströme“
nach und vermitteln so ein anschauliches Bild von einem Deutschland,
das seit langem „in Bewegung“ ist.
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