"Ich hab' meine Kinder von den Rationen nicht satt
gekriegt. Wir hatten dauernd Hunger. Die Kinder wurden zu Hause nicht
satt, und dann haben sie angefangen zu klauen. Da hatten wir noch Schwierigkeiten
mit der Polizei."
Wenn die Mütter mit der
gelegentlich ins Kriminelle abdriftenden Selbständigkeit ihrer
Kinder schon Schwierigkeiten hatten, so ist nur zu verständlich,
daß vielen Familien ernsthafte Konflikte ins Haus standen, wenn
die Väter nach jahrelanger Abwesenheit aus der Kriegsgefangenschaft
heimkehrten. Diese ausgemergelten, häufig demoralisierten Soldaten
waren auch während ihrer Lagerhaft immer militärischer Kommandogewalt
unterstellt gewesen; von Lebensmöglichkeiten, die nicht Kommißbedingungen
unterlagen, wußten sie kaum noch etwas. Wenn sie nun hungrig,
ruhebedürftig und oft arbeitsunfähig in die Familien heimkehrten,
begegneten die Kinder den fremden Männern oft mit Mißtrauen
und Ablehnung. Für diese waren das Eindringlinge, mit denen sie
den ohnehin knappen Lebensunterhalt teilen sollten. Die gespannte, von
gegenseitiger Skepsis geprägte Situation wurde schnell explosiv,
wenn die Heimkehrer für die veränderten Verhaltensweisen und
das neue Selbstbewußtsein von Frauen und Kindern nur wenig Verständnis
aufbringen konnten und ihrerseits die gewohnte häusliche Ordnung
mit autoritärem Anspruch wiederherstellen wollten.
Als 1946 die internationalen
Spendenaktionen anliefen, konnte in vielen Familien die ärgste
Not gelindert werden; vielleicht blieb dadurch auch manchem Kind ein
Abrutschen in zeitweilige Verwahrlosung erspart. Doch bei der kostenlosen
Essensausgabe, der Schulspeisung wie der Verteilung von Kleidung und
Nahrungsmitteln ging es immer noch vordringlich um das physische Überleben.
Wer aber kümmerte sich um die getäuschten Hoffnungen, irrigen
Phantasien, den desolaten Wissensstand und die neu erwachende Lebensgier
der Kinder? Das sollte wieder Aufgabe der Schule werden, einer Schule
die seit Jahren nur noch unregelmäßig und seit 1944 für
viele Kinder gar nicht mehr stattgefunden hatte.
Im Oktober 1945 veranstaltete
das Volksbildungsamt Berlin-Reinickendorf einen Malwettbewerb "Kinder
sehen den Krieg". Als Resultat der anschließenden Ausstellung
erkannte ein Presseberichterstatter eine "Sehnsucht nach Frieden,
die oft das Kriegsthema vollkommen in den Hintergrund drängt."
Er merkte allerdings auch an: "Dem aufmerksamen Betrachter wird
es nicht entgehen, daß in der kindlichen Vorstellung noch vieles
in einem schiefen Licht steht und daß in der pädagogischen
Erziehungsarbeit erst ein Anfang gemacht wurde."
Anfänge waren in den verschieden
Bezirken seit dem Sommer 1945 teilweise in Eigeninitiative von Lehrern,
Eltern und Schülern gemacht worden. Im September standen immerhin
1.300 winterfeste Schulräume in ganz Berlin zur Verfügung,
in denen dann ab dem 1. Oktober wieder regulärer Schulunterricht
in mehreren Schichten abgehalten wurde. Am 1. April 1946 waren in 658
Schulen schon wieder 373.902 Schüler registriert. In der Abteilung
Volksbildung des neuen Magistrats von Groß Berlin wollte man den
"Versuch eines völligen Neuaufbaus" unternehmen. Dabei
verzichtete man auf 2.474 ehemalige NSDAP-Mitglieder aus der alten Lehrerschaft
und nahm lieber zunächst erheblichen Lehrermangel in Kauf: an den
Volksschulen stand anfangs für 58 Kinder nur eine Lehrkraft zur
Verfügung.
Was man sich vorgenommen hatte,
bezeichnete der erste Rechenschaftsbericht des Magistrats der Stadt
Berlin 1946 als "geistige Enttrümmerung". Für die
Überzeugung, das dergleichen damals notwendig war, gab es viele
Ursachen und Gründe. Aber die sind es eben, die auf den hier gezeigten
Photographien nicht offensichtlich werden. Dennoch macht, 50 Jahre danach,
eine Ausstellung Sinn, weil sie Anlaß gibt, über die Notwendigkeit
der Auseinandersetzung mit Geschichte und über den Erfolg von geistigen
Enttrümmerungen nachzudenken.
Winfrid Ranke
weiter / next