"Die Einrichtung der KLV-Lager bietet die Möglichkeit,
Jugendliche in großem Rahmen und für längere Zeit total
zu erziehen. Schulische Arbeit, HJ-Dienst und Freizeit lassen sich hier
erzieherisch gleichmäßig beeinflussen."
Verdeutlichen läßt sich das vielleicht an
der Kinderlandverschickung (KLV). Das war eine Maßnahme, die zunächst
durchaus auf wohlwollende Fürsorge der Machthaber schließen
ließ. Schon nach den ersten Luftangriffen auf Berlin ordnete der
"Führer" im September 1940 "eine verstärkte
Verschickung der Großstadtkinder in die nicht luftgefährdeten
Gegenden des Reiches" an. Doch viele Eltern zögerten, die
Kinder aus ihrer Obhut und aus dem Familienverband zu entlassen. Es
hat den Anschein, als hätten sie den vorgeblich besten Absichten
der Organisatoren nicht recht getraut. Jedenfalls bemühte sich
ein Merkblatt des Gaubeauftragten für die erweiterte Kinderlandverschickung,
das im September 1941 an die Eltern von zehn- bis vierzehnjährigen
Schülern verteilt wurde, um eine auffallend werbende Sprache:
"... Die zehn- bis vierzehnjährigen Jungen und Mädel
sind in Lagern zusammengefaßt und stehen unter der Obhut von bewährten
Lehrern und HJ-Führern (bzw. Lehrerinnen und BDM-Führerinnen)
. "... Liebe Eltern! Gönnt Euren Kindern die schönen
Tage in der Kinderlandverschickung, in der sie zusammen mit Gleichaltrigen
die vielleicht einmalige Möglichkeit haben, die Schönheiten
unserer großdeutschen Heimat kennenzulernen."
Es gab natürlich Gründe, der Verlockung nicht unbedacht auf
dem Leim zu gehen. Nach dem Kalkül der Partei sollten durch die
KLV die wachsenden Versorgungsprobleme in der Reichshauptstadt verringert,
Mütter als dringend benötigte zusätzliche Arbeitskräfte
freigesetzt und die Schülerinnen und Schüler einer nationalsozialistischen
Erziehung ohne häusliches Korrektiv ausgesetzt werden. In der "
Reichsjugendführung"
versprach man sich Vorteile für die mit Schule und Elternhaus rivalisierende
HJ: "Die Einrichtung der KLV-Lager bietet die Möglichkeit,
Jugendliche in großem Rahmen und für längere Zeit total
zu erziehen. Schulische Arbeit, HJ-Dienst und Freizeit lassen sich hier
erzieherisch gleichmäßig beeinflussen." Mag sein, daß
viele Eltern inzwischen meinten, totale Erziehung und das vom Kommandoton
beherrschte Lager seien für ihre Kinder nicht unbedingt wünschenswert.
Als man dazu überging, Kinder und Jugendliche klassenweise zu evakuieren,
versuchten jedenfalls viele Mütter, sich mit ihren Kindern verschicken
zu lassen.
Waren Familien
"ausgebombt" - also obdachlos -, so blieb ihnen oft nur die
Evakuierung als Ausweg, denn wenn die eigene Wohnung zerstört war,
ließ sich Ersatz kaum beschaffen, da die unzerstörten Wohnungen
für Erwerbstätige und Dienstverpflichtete reserviert waren.
Bis Ende 1944 verließen ca. 1,9 Millionen Menschen die Stadt,
mehr als die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. KLV und die Evakuierung
von Müttern mit Kleinkindern boten einem Teil der Zivilbevölkerung
zwar Schutz vor Bombenangriffen und Brandkatastrophen, sie bewirkten
aber auch, daß viele Familien für lange Zeit auseinandergerissen
und selbst Geschwister voneinander getrennt wurden, weil im Rahmen der
KLV die Schulklassen oder Altersgruppen getrennt
in verschiedene Gebiete verschickt wurden.
Mit fortschreitender Verschlechterung der Kriegslage
nahm auch Verweigerung der Eltern zu, ihre Kinder aus der Hand zu geben.
Staat und NSDAP antworteten darauf mit Druck. Am 19.1.1944 erging in
Berlin eine Anordnung, die noch in der Stadt verbliebenen "Restschulen
in die Aufnahme- und Ausweichgebiete" zu verlegen oder "die
in Berlin zurückgebliebenen Schüler, soweit sie umquartierungsfähig
sind, auf dem Wege der Verwandtenhilfe nach außerhalb" zu
bringen. Unwilligen Eltern wurde die Verantwortung für die "Nichtbeschulung"
ihrer Kinder auferlegt, denn "mit einer Wiederaufnahme des Unterrichts
in Berlin ist nicht zu rechnen." Überdies werde es auch "die
Schulunterrichtsmöglichkeit in den Randgebieten des Gaues Mark
Brandenburg für Berliner Kinder "... in absehbarer Zeit nicht
mehr geben."
Obwohl viele Eltern und Erziehungsberechtigte, also
zumeist die an der "Heimatfront" dienstverpflichteten Mütter
und die Großeltern, zu verhindern suchten, daß die Familien
auseinandergerissen wurden, sank in Berlin die Zahl der Empfänger
von Lebensmittelkarten, also der amtlich registrierten Versorgungsberechtigten,
von Januar 1943 bis Dezember 1944 aufgrund der Evakuierungen von 4,07
Millionen auf 2,82 Millionen; etwa die Hälfte der Evakuierten waren
Kinder und Jugendliche.
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