documenta. Politik und Kunst | 18. Juni 2021 bis 9. Januar 2022 | Pei-Bau
More Story
„More Story“ gibt Ihnen digital einen schnellen Einblick in die Themen der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ und bietet spannende Zusatzinformationen. Erfahren Sie von Raphael Gross, dem Präsidenten des DHM, wie die Idee für diese Ausstellung entstand. Und treffen Sie Personen, die an der Schau mitgearbeitet haben. Welche Rolle spielte die NS-Zeit auf der documenta? Was machte der Kunsthistoriker Werner Haftmann im Krieg? Und was ärgerte die feministische Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls an der documenta?
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Aufbau documenta 4 (1968), Foto: Werner Lengemann / © documenta archiv (Dauerleihgabe der Stadt Kassel), Gestaltung: MarkusWeisbeck.Studio
Zigarettenpause vor dem „Rahmenbau“ von Haus-Rucker-Co am östlichen Rand des Friedrichsplatzes, Kassel, documenta 6, 1977
Foto: © Hans Braun
Die documenta ist eine der bekanntesten Kunstausstellungen der Welt. Gegründet wurde sie 1955. Seitdem verwandelt sich Kassel alle vier, fünf Jahre in ein internationales Zentrum für Gegenwartskunst. Zuletzt kamen fast eine Million Besucherinnen und Besucher in die hessische Stadt.
Der Friedrichsplatz zur Eröffnung der ersten documenta, Kassel, 1955
© documenta archiv, Foto: Werner Lengemann
Im Zentrum der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ steht das Wechselspiel zwischen Politik und Kunst im Nachkriegsdeutschland. Von Anfang an diente die Kasseler Kunstschau als wichtige politische Bühne. Mit der Kunst wollte sich die junge Bundesrepublik im Kalten Krieg abgrenzen: vom Sozialismus und Kommunismus der Gegenwart wie vom Nationalsozialismus der Vergangenheit.
„Im Laufe der Recherchen für die Ausstellung ergab sich eine erstaunliche Wendung: Der Bruch mit der NS-Kulturpolitik war nicht so radikal und tiefgreifend, wie ich gedacht hätte. Ermordete jüdische Künstler wurden am Anfang nicht auf der documenta gezeigt.“
Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums
Bundespräsident Theodor Heuss wird von Arnold Bode über die documenta geführt, Kassel, 1955
© documenta archiv, Foto: Erich Müller
Auf der documenta waren 1955 viele Künstlerinnen und Künstler vertreten, deren Werke im Stil der Moderne im Nationalsozialismus als „entartet“ verfemt worden waren. Bundespräsident Theodor Heuss engagierte sich als Schirmherr für die documenta und die Moderne stieg zur Staatskunst auf.
Zu den nach Kassel Eingeladenen zählte die Künstlerin Emy Roeder. Ihre Skulpturen galten bis 1945 als „entartet“. Auf der ersten documenta war sie mit drei Werken vertreten.
Emy Roeder (1890-1971), Würzburg, 1936
© Museum im Kulturspeicher Würzburg, Nachlass Emy Roeder
Rudolf Levy (1875-1944), „Selbstbildnis IV“, 1943
© Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern (mpk), Foto: Gunther Balzer
Wegen der Nationalsozialisten war Roeder nach Italien ausgewandert. Dort lernte sie den jüdischen Maler Rudolf Levy kennen. Er war 1933 aus Deutschland geflohen.
Levy wurde von der SS in Florenz verhaftet und starb 1944 bei der Deportation nach Auschwitz.
„Die Erinnerung, die die Künstlerin Emy Roeder an den jüdischen Künstler Rudolf Levy wachhält, findet keinen Eingang in die documenta 1955. Das sagt viel über die documenta und die Erinnerungspolitik in diesen Jahren.“
Julia Voss, Kuratorin von „documenta. Politik und Kunst“
Werner Haftmann und Arnold Bode bei der Eröffnungsfeier der documenta 3, Kassel, 1964
© documenta archiv, Foto: Wolfgang Haut, Frankfurter Allgemeine Zeitung
An der Gründung der ersten documenta waren 21 Personen beteiligt. Zehn von ihnen waren ehemalige Mitglieder der NSDAP, der SA oder SS. Die Bruchlinie ging quer durch den innersten Kreis. Bis zur documenta 3 arbeiteten der Sozialdemokrat Arnold Bode (1900-1977) und das ehemalige NSDAP-Mitglied Werner Haftmann (1912-1999) eng zusammen.
Während Bode 1933 wegen der Nationalsozialisten seine Arbeit verlor, konnte Haftmann seine Karriere zur gleichen Zeit fortführen.
Im Jahr 1936 ging der Kunsthistoriker Haftmann nach Italien und wurde dort erster Assistent am renommierten Kunsthistorischen Institut in Florenz. Ab 1940 war er als Soldat in Italien im Einsatz, ab 1943 führte er auch geheimdienstliche Tätigkeiten aus. Für seine Erfolge bei der Jagd auf italienische Partisanen wurde er von der Wehrmacht ausgezeichnet. Der Historiker Carlo Gentile hat diesen Teil von Haftmanns Biografie erforscht; Haftmann selbst schwieg darüber zeitlebens.
„Was wir eindeutig wissen, ist Haftmanns aktive Beteiligung an der Partisanenbekämpfung. In diesen Aktionen sind Zivilisten erschossen worden und Verdächtige wurden gefoltert.“
Carlo Gentile, Historiker, Universität zu Köln
Werner Tübke (1929-2004), „Die Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze III“ , 1965, documenta 6
bpk / Nationalgalerie, SMB, Foto: Klaus Göken © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Die Folgen, die sich unter anderem durch Haftmanns Schweigen für die Kunstgeschichte und bundesdeutsche Erinnerungspolitik ergaben, werden in der Ausstellung des DHM zum ersten Mal ausführlich dargestellt. Es prägte auch die Ablehnung eines sozialistischen Kunstbegriffs, wie er in Ostdeutschland vertreten wurde.
Guerrilla Girls, „Why in 1987 is documenta 95 % white and 83 % male?“ , Postkarte anlässlich der documenta 8, 1987
© Courtesy of Guerrilla Girls www.guerrillagirls.com
Die documenta sollte lange Zeit zwei Gesichter behalten: Auf der einen Seite traten das Organisationsteam und die Geldgeber mit der Kunst für Freiheit, Fortschritt, Internationalität und Demokratie ein. Auf der anderen Seite wurde dieses Versprechen häufig nur zum Teil gehalten, manchmal gar nicht. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit führte immer wieder zu Protesten – der Öffentlichkeit, von politisch Aktiven, aber auch der Künstlerinnen und Künstler. Das feministische Künstlerkollektiv Guerrilla Girls wurde 1987 nicht eingeladen, auf der documenta 8 auszustellen. Es nahm aber trotzdem teil: mit einer Aktion gegen die Ausgrenzung von Frauen und People of Color.
„Die Karte der Guerrilla Girls zeigt, dass auch bei der documenta 8 das Verhältnis sehr unausgeglichen war: zwischen Künstlern, die weiß, westlich und männlich waren, und solchen, die Frauen waren oder People of Color.“
Lars Bang Larsen, Kurator von „documenta. Politik und Kunst“
Séraphine Louis, „L'arbre de vie“ (Lebensbaum), 1928, erste documenta
© Musées de Senlis, Foto: Christian Schryve
Die Ausstellung „documenta. Kunst und Politik“ zeigt zahlreiche berühmte Werke, die zwischen 1955 und 1997 in Kassel ausgestellt wurden: von Kunstschaffenden wie Séraphine Louis, Joseph Beuys oder Andy Warhol.
Zu diesen Werken kommen in der Ausstellung Bilder, Skulpturen und Archivfunde, die bisher unbekannt waren oder nicht im Rampenlicht standen. Sie sollen eine größere Öffentlichkeit erhalten – und zu fruchtbaren Debatten über das Verhältnis von Politik und Kunst führen.