DEUTSCHLAND ALS AUSWANDERUNGSLAND
WARUM MILLIONEN VON MENSCHEN DEUTSCHLAND VERLIESSEN
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Warum diese Aussage im Jahr 2016 so selbstverständlich klingt, verdeutlicht derzeit die Ausstellung „Immer bunter“ im Deutschen Historischen Museum.
Doch für Auswanderer mit der Hoffnung auf ein besseres Leben war Deutschland nicht immer das Ziel, sondern lange der Ausgangspunkt ihrer Reise: Im 19. Jahrhundert wanderten Millionen von Menschen aus Deutschland aus, um ein ungewisses Glück im Ausland zu suchen. „Den Auswanderungen oder Wanderungen kann ein Damm nicht mehr entgegengesetzt werden“, vermeldete die erste Ausgabe der Allgemeinen Auswanderungs-Zeitung am 20. September 1846. Allein zwischen 1850 und 1870 verließen – meist auf dem Schiff über den Atlantik – rund zwei Millionen Menschen das Gebiet des Deutschen Bundes. Das entsprach damals in etwa der vierfachen Einwohnerzahl der Stadt Berlin.
LAND DER TRÄUME
Das Wunschziel der meisten Auswanderer war ein mythenumranktes Land im Westen: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Reiseberichte machten den Auswanderern die Neue Welt schmackhaft. So lobte Gottfried Duden 1829 die „große Fruchtbarkeit des Bodens, dessen ungeheure Ausdehnung, das milde Klima, die vollkommene Sicherheit der Personen und des Eigenthumes, bei sehr geringen Staatslasten“. Duden war in den USA Arzt, Schriftsteller, Farmer und Friedensrichter.
Er reihte – in Begriffen der heutigen Migrationstheorie gesprochen – Pull-Faktor an Pull-Faktor und beschrieb die USA gerade für sogenannte Armutsmigranten attraktiv. „Der ärmste Mann lebt hier besser als der in Europa zwei Stufen höher stehende“, bestätigte auch der Reisende H.W.E. Eggerling. Er verfasste die „Kurze Beschreibung der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika“, die 1832 erschien.
Diese Verklärung der Lebensbedingungen jenseits des Atlantiks verfehlte ihre Wirkung in Deutschland nicht. Denn während die politischen und sozialen Zustände in der Neuen Welt paradiesisch schienen, waren sie in der Alten Welt oft prekär.
Die gescheiterte bürgerlich-demokratische Märzrevolution der Jahre 1848 und 1849 und die anschließende reaktionäre Enge bewegte viele freiheitlich gesinnte Bürgerinnen und Bürger zur Auswanderung. Zudem herrschte in vielen Gegenden Deutschlands bittere Armut. Die letzte große Hungersnot der vorindustriellen Zeit prägte die Jahre 1846 und 1847. Missernten und die seit 1844 grassierende Kartoffelfäule machten die Vorräte zunichte.
Landwirtschaft und aufkommende Industrie konnten die wachsende Bevölkerung nicht ernähren. Gerade Handwerkern ohne Ausbildung und Hilfsarbeitern war es nicht möglich, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ein besseres Leben schien diesen Menschen nur fernab der Heimat möglich.
DAS GESCHÄFT MIT DER HOFFNUNG
Der ersehnte Neuanfang begann mit einer beschwerlichen Reise: Auswanderer waren bei günstigem Wetter sechs, nicht selten aber bis zu zwölf Wochen auf dem Atlantik unterwegs. Auf den Segelschiffen jener Zeit, die von Bremen, Bremerhaven und Hamburg in See stachen, reisten die mittellosen Migranten auf den sogenannten Zwischendecks. Nur 1,72 Meter mussten diese laut einer Verordnung hoch sein.
In den Genuss von Komfort kamen die Reisenden nicht. Ihnen stand eine Schlaf-, Ess- und Aufenthaltsfläche zur Verfügung, die kaum mehr als einen Quadratmeter Platz bot. Hinzu kamen hygienische und medizinische Missstände.
Gleichzeitig war die Auswanderung für andere auch ein großes Geschäft. „Ohne Zwischendeckpassagiere wäre ich innerhalb weniger Wochen bankrott“, soll der HAPAG-Geschäftsführer Albert Ballin über das Unternehmen gesagt haben, das er zur größten Schifffahrtslinie der Welt machte.
ARMUT STATT AUFSTIEG
So groß die Hoffnung war, mit der sich die Auswanderer auf den Weg machten, so ungewiss war ihre Zukunft. Die Reise war kein Abenteuer, sondern fortgesetzter Existenzkampf. Die Malerin Antonie Volkmar fängt mit ihrem Gemälde „Abschied der Auswanderer“ von 1860, das in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums zu sehen ist, den wechselnden Zustand des Hoffens und Bangens eindrucksvoll ein. Die Ängste der Auswanderer waren begründet: Auch wenn manchen in den USA der soziale Aufstieg gelang, lebten viele Deutsche auch in ihrer neuen Heimat in bitterer Armut oder schufteten als billige Arbeitskräfte.
Insgesamt stellten die Deutschen die größte Gruppe von Einwanderern in die USA. Uneingeschränkt willkommen waren sie dort nicht: „Was längst zu befürchten gewesen, ist endlich eingetroffen; die Vereinigten Staaten haben, um gegen Überschwemmung mit unselbständigen, völlig hilflosen Menschen sich gleichsam ihrer Haut zu wehren, sehr strenge Einwanderungsgesetze erlassen“, schrieb die Allgemeinen Auswanderungs-Zeitung 1847. Trotzdem verebbten die Auswanderungswellen über den Atlantik erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als Deutschlands Wirtschaft boomte und erstmals weiten Teilen der Bevölkerung ein Leben abseits der Armut ermöglichte.