ALEXANDER VON HUMBOLDT UND DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO

Nach Jahren akribischer Vorbereitung reiste Alexander von Humboldt 1799 nach Südamerika. Bis heute zählt seine amerikanische Reise zu den berühmtesten Expeditionen der Menschheitsgeschichte. Dabei erwies sich von Humboldts Wissensdurst als so groß, dass er und seine Begleiter immer wieder in Lebensgefahr gerieten. So etwa im Frühsommer 1802, als der Wissenschaftler zu einer waghalsigen Mission aufbrach: der Erstbesteigung des nach damaliger Kenntnis höchsten Gipfels der Erde.

Im matten Licht der Öllampe hebt Alexander von Humboldt den Blick aus seinem Tagebuch. Während er die Erlebnisse der letzten Tage trotz Kälte und Dunkelheit zu Papier bringt, schlafen seine Kompagnons Bonpland und Montúfar an der Feuerstelle. Wenige Meter entfernt sitzen die einheimischen Träger und flüstern, hinter ihnen die laut atmenden Lastentiere. Humboldt befreit sich aus der dicken Wolldecke, streckt seine Rechte in einer Vorahnung in den pechschwarzen Himmel und merkt, wie seine Hand sich langsam mit feinen Schneeflocken bedeckt. Einen Moment glaubt er aus dem Inneren des Chimborazo ein tiefes Grollen zu hören, verbannt seine Vermutung dann aber doch ins Reich der Einbildungen. Morgen möchte von Humboldt es wagen: Den mächtigen Andengipfel zu besteigen, als erster Mensch der Welt.

FORSCHUNGSMARATHON IN DER NEUEN WELT

Es ist der Sommer 1802. Drei Jahre schon währt die Reise, die die beiden Naturforscher Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland über den Ozean und durch weite Teile Südamerikas geführt hat. Sie haben mehr als 50 moderne Instrumente wie Fernrohre, Barometer, Sextanten oder Teleskope im Gepäck – und einen wahren Forschungsmarathon hinter sich. Die Verbindung zwischen den Flüssen Orinoco und Amazonas: bewiesen. Die Pflanzen- und Tierwelt der Tropenwälder: erforscht. Die Silber- und Goldminen Kolumbiens: inspiziert. Vor allem Bonpland, dieser furchtlose Franzose, ist im Laufe der Reise mehr als einmal nur knapp dem Tod entkommen.

Nun kämpfen sie sich die Flanke des mächtigen Chimborazo hinauf. Trotz widriger Umstände haben die forschenden Abenteurer ein wichtiges Zwischenziel erreicht – die Schneefallgrenze. Hier machen sie halt, bevor sie am Folgetag den Gipfel des sagenumwobenen Berges anvisieren. Seine Besteigung soll den Höhepunkt ihrer aktuellen Mission darstellen – der Erforschung der Allee der Vulkane, einer Reihe von mehr als 20 feuerspeienden Bergen inmitten des beeindruckenden Andengebirges.

HUMBOLDT UND SEINE BEGLEITER WAGEN DEN RISKANTEN AUFSTIEG

Als Humboldt am Morgen des 23. Juni 1802 als erster erwacht, ist das Feuer beinahe erloschen, das Lager eingeschneit. Der Naturwissenschaftler will keine Zeit verlieren, weckt seine Begleiter und mahnt zu baldigem Aufbruch. Bonpland und der erst 21-jährige Carlos de Montúfar, der sich dem deutsch-französischen Duo in Quito angeschlossen hatte, sind alsbald bereit. Die Einheimischen jedoch weigern sich standhaft, weiter voranzuschreiten. Sollen diese verrückten Europäer doch alleine sterben – mit ihnen jedenfalls sei dieses wahnsinnige Unternehmen nicht zu machen, so der unmissverständliche Tenor. Schließlich wagen Humboldt und seine beiden Begleiter den gefährlichen Aufstieg zu dritt.

Die Bedenken der Einheimischen sind durchaus begründet. Nicht umsonst haben sie und ihre Vorfahren noch nie die Schneefallgrenze überschritten. Die Indios wissen: Weiter oben beginnt, was Bergsteiger heute die „Todeszone“ nennen – gefährlich dünne Luft. Die Ausrüstung des Trios um Humboldt ist vollkommen mangelhaft. Ihre Stiefel sind kaputt und nass, Handschuhe fehlen. Egal, mag Humboldt denken, wer es so weit geschafft hat, ist durch nichts mehr aufzuhalten.

DIE ENTDECKER GERATEN IN LEBENSGEFAHR – HUMBOLDT ENTDECKT DIE „BERGKRANKHEIT“

So klettern sie Richtung Gipfel, während der Preuße immer wieder Höhe, Temperatur und Luftdruck misst, Gesteinsproben entnimmt, Pflanzenteile vorsichtig abtrennt und einsteckt. Je weiter sie in die Höhe vordringen, desto stärker sinken die Temperaturen, desto rarer werden die Gewächse am Wegesrand. Als der Schneefall stärker wird und der Nebel zäher, ermahnt Humboldt seine Begleiter, man möge zusammenbleiben, schaut in diesem Moment in Richtung Bonpland und sieht, wie dem Franzosen das Blut in dicken Fäden aus der Nase läuft. Er hält das zunächst für nur mäßig beunruhigend, bis er sieht, dass auch Montúfar im gesamten Gesicht blutet, ja sich plötzlich sogar ohne Vorwarnung übergibt. Als wenige Augenblicke später auch Humboldt selbst von Schwindel, Übelkeit und Nasenbluten befallen wird, ist er sicher: Dies kann kein Zufall sein. Die drei müssen an einer bisher unbekannten Krankheit leiden – der „Bergkrankheit“, wie er sie später nennen wird.

Die benommenen Abenteurer irren weiter, bis nur noch „die dreimalige Höhe der Peterskirche zu Rom“ – so wird es Humboldt später notieren – sie vom Gipfel trennt. Da stoßen die Männer, mehr irrend als laufend, auf eine unüberbrückbare Spalte, die sie zur Umkehr zwingt – und sich letztlich als ihre Rettung erweist: Noch während ihres Abstiegs setzt ein selten starker Schneefall ein, der sie jegliche Orientierung verlieren lässt. Planlos stolpern sie herunter, da taumeln sie, der Zufall will es so, in die Arme ihrer einheimischen Träger. Trotz des Unwetters haben die Indios an der Schneefallgrenze ausgeharrt – und bringen die erschöpften Entdecker nun schnellstmöglich ins Tal zurück. Wären Humboldt, Bonpland und Montúfar weiter Richtung Gipfel geklommen – es hätte womöglich ihr Ende bedeutet.

HUMBOLDT UND DER CHIMBORAZO: EIN ZWIESPÄLTIGES VERHÄLTNIS

Humboldts großer Traum, die Erstbesteigung des Chimborazo, war fehlgeschlagen. Dennoch war das waghalsige Abenteuer keineswegs vergeblich gewesen: Schon bald nach der Strapaze sollte Alexander von Humboldt in seinem Tagebuch als erster Mensch die Höhenkrankheit beschreiben – und seinem bemerkenswerten Reigen an Entdeckungen eine weitere hinzufügen. Humboldts Verhältnis zum Chimborazo hingegen blieb zwiespältig: Die knapp verpasste Bezwingung des Vulkans wurmte ihn derart, dass er seine Leistungen am Berg als unbedeutend darstellte und in einem ironischen Essay herunterspielte. Als Humboldt sich jedoch kurz vor seinem Tode im Jahr 1859 noch einmal malen ließ, konnte es nur eine Kulisse für das Gemälde geben: den mächtigen Chimborazo. Die Erstbesteigung erlebte Humboldt indes nicht mehr. Sie gelang dem Briten Edward Whymper erst 1880 – 78 Jahre nachdem eine Felsspalte Humboldt und seinen Begleitern das Leben gerettet hatte.