Alternative Fakten, Fake News und postfaktische Aussagen
Anfang April debattierte das Europäische Parlament über sie, Donald Trump bezeichnet Behauptungen seiner Gegner als solche und auch in Deutschland sind sie nicht mehr aus der öffentlichen Debatte wegzudenken: „Fake News“ und die postfaktischen Aussagen sind ein politisches Kernthema unserer Zeit. Doch „alternative Fakten“, wie Kellyanne Conway, die Beraterin Donald Trumps ihre nachweislich falschen Aussagen zur Besucheranzahl bei Trumps Inauguration nannte, sind keine Erfindung unserer Zeit.
Fake News vor 100 Jahren: Lügen-Kampagne gegen jüdische Soldaten
In der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums findet sich ein relativ kleines, fast unscheinbares Flugblatt, das vom Kampf gegen „alternative Fakten“ erzählt. Mit diesem Flugblatt versuchte der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten sich 1919 gegen den Vorwurf zu wehren, die Juden hätten sich während des Ersten Weltkriegs vor dem Kriegsdienst gedrückt. Obwohl sich viele Juden 1914 freiwillig als Soldaten gemeldet hatten und obwohl insgesamt etwa 100.000 jüdische Soldaten in der deutschen Armee kämpften – was ungefähr ihrem prozentualen Anteil an der Bevölkerung entsprach –, war dieses Gerücht, dass die Juden sich vor dem aktiven Kriegsdienst drückten, schon während des Kriegs aufgekommen. 1916 sollte die vom Kriegsministerium angeordnete „Judenzählung“ die Frage klären. Doch da die Zählung nur die Juden und keine anderen Religionen betraf, vertiefte sie den Antisemitismus nur – insbesondere, da das Ergebnis nie veröffentlicht wurde. Aus den Briefen jüdischer Soldaten wissen wir, wie tief sie dadurch verletzt wurden. Gerade zu einem Zeitpunkt, als sie sich so akzeptiert und in der deutschen Gesellschaft „angekommen“ fühlten wie nie zuvor, wurden sie wieder ausgesondert. Leutnant Julius Marx schrieb dazu 1916: „Was soll denn dieser Unsinn?! Will man uns zu Soldaten zweiten Ranges degradieren, uns vor der ganzen Armee lächerlich machen? […] Pfui Teufel, dafür hält man für sein Land den Schädel hin.“
Gerüchte statt Fakten, um von Kriegsniederlagen abzulenken
Heute können wir nachvollziehen, woher das Gefühl stammt: Trotz aller Anstrengungen und Entbehrungen gewann Deutschland den Krieg nicht. Das Gerücht lenkte effektiv von den militärischen, organisatorischen und politischen Problemen ab, über die nicht offen diskutiert werden durfte. Vereine wie der „Alldeutsche Verband“ stellten daher die Juden als „Kriegsgewinnler“ und „Drückeberger“ dar – das sollte verhindern, dass die politischen Entscheider des Kaiserreichs in die Kritik gerieten.
Bereits vor 100 Jahren können wir also eine ansteigende Welle postfaktischer Argumentation erleben. Keine Seite schien 1917 den Krieg zu gewinnen. An den verschiedenen Fronten gab es auch für das Deutsche Reich keine Siege zu verzeichnen, nur abgewehrte Gegenoffensiven, wie die auf dem Chemin des Dames im April. Ein Ende des Krieges, gar ein Sieg, war nicht in Sicht. Der Frust über diese Situation, die Wut über Hunger und Entbehrungen hätten eigentlich zu politischen Auseinandersetzungen führen müssen. In Frankreich, das ebenso kriegsmüde wie Deutschland war, meuterten die Soldaten. In Deutschland nicht. Stattdessen vertieften sich antisemitische Ressentiments.
Angeblicher „Neuanfang“: Lügen, Hetze und Antisemitismus
Nach der Niederlage 1918 stieg die antisemitische Stimmung noch weiter an. Der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ verteilte 1920 über sieben Millionen antisemitische Flugblätter. Ziel war es, die neue Demokratie zu schädigen. Die deutsche Niederlage wurde nicht als Ergebnis falscher Entscheidungen der Eliten des Kaiserreichs dargestellt, sondern als Schuld der jungen Republik und der Juden gedeutet. Die deutschen Juden versuchten, sich mit Aufklärungskampagnen gegen diese Hetze zu wehren. Auch das Flugblatt in der Ausstellung sollte das erreichen, etwa durch den Verweis auf die 12.000 jüdischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen waren.
Doch auch wenn viele wussten, dass es sich um Lügen handelte, hatte dies keinen Einfluss auf die Wirkung. Ein antisemitisches Gerücht wirkt nicht, weil es wahr ist, sondern weil es einem bestehenden Gefühl Ausdruck verleiht. Die Wahrheit kann gegen diese postfaktische Argumentation nicht ankommen. Bezahlt haben dafür die deutschen Juden – viele von ihnen mit ihrem Leben. So wie Paul Stadthagen, einer von vielen jüdischen Kriegsfreiwilligen, Offizier der Fliegertruppe, dessen Kriegsauszeichnungen das Deutsche Historische Museum bewahrt: Nach Jahren der Ausgrenzung und Diskriminierung unter nationalsozialistischer Herrschaft wurde Paul Stadthagen im September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er im Februar 1943 starb.