Die Erfindung der Großmutter
Wie eine Oma aussieht, weiß jedes Kind. Sie hat weiße Haare, die zum Dutt hochgesteckt sind. So dargestellt, erkennen wir Omas auch heute noch, Dabei sehen sie heute gar nicht mehr so aus. Ganz im Gegenteil, Omas sind in Turnschuhen und Jeans von Müttern kaum zu unterscheiden. Anlässlich des Muttertags fragt unser Blog, woher dann das langlebige Klischee der weißhaarigen Oma stammt.
Von der Altersverachtung zur Altersverehrung
Lange Zeit hatten Großeltern keine besondere Bedeutung. Familien wurden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vor allem durch die Bindung von Eltern und Kindern zusammengehalten. Oft waren bei den Eltern auch noch kleine, d.h. unmündige Kinder im Haus, wenn die ältesten Kinder ihre eigene Familie gründeten. Anders als viele denken, lebten vor der Neuzeit nur selten mehr als zwei Generationen unter einem Dach. Dazu kam, dass durch relativ späte Familiengründung und relativ niedrige Lebenserwartung lange Zeit nur etwa zehn Prozent der Menschen Großelternschaft erlebten. Doch das führte nicht dazu, dass die wenigen Alten besonders verehrt wurden. Im Gegenteil, alte Menschen, die keinen eigenen Haushalt mehr führen konnten, galten als unproduktiv, nutzlos, ja sogar gefährlich. Besonders alte Frauen finden wir in Bildern und Schriften als warzengesichtige Hexen dargestellt, die den jungen Menschen ihre Attraktivität und Aktivität neiden. Wir kennen diese Figur vor allem aus Märchen, allerdings war Altersverachtung eine gesellschaftliche Tatsache.
Die Erfindung der Oma im 18. Jahrhundert
Doch im 18. Jahrhundert änderte sich das radikal. Die Großmutter wurde zur zärtlich-idealisierten Überfigur, zur Inkarnation der ewigwährenden mütterlichen Liebe, oder wie ein Enkel es um 1800 formulierte: „Ich war meiner Großmutter Liebling und musste in ihrem Zimmer schlafen. Hier las sie mir oft aus Starks Gebetbuch den Abendsegen vor […] Aus lauter Zärtlichkeit verweichlichte sie mich. Doch verdanke ich ihr, dass ich gern zu Hause war […]“.
In dem Maße, wie durch frühere Familiengründung bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebenserwartung Großmütter häufiger von ihren Enkeln erlebt wurden, stieg auch die Wertschätzung ihrer Rolle. Das hing vor allem mit der Entwicklung der bürgerlichen Trennung von Arbeits- und Privatsphäre als Ideal zusammen. Noch mehr als die Mutter, die sich auch um den wirtschaftlichen Ablauf des Haushalts kümmern musste, wurde die Großmutter in den Familienvorstellungen des aufstrebenden Bürgertums zum Abbild der Frau, die nur für die Familie lebt.
Die Großmutter als Kern und Seele der Familie
In unserer Dauerausstellung findet sich eine frühe Darstellung einer Großmutter als Mittelpunkt der Familie: Auf dem vom Friedrich Tischbein gemalten Porträt der zwei hugenottischen Familien Reclam. Tischbein war ein beliebter Porträtist des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Wenn man es sich leisten konnte, von ihm gemalt zu werden, dann hatte man es „geschafft“. Und die hier dargestellten Familien Reclam hatte es geschafft – hundert Jahre, nachdem der erste Reclam als hugenottischer Flüchtling ins Heilige Römische Reich gekommen war, gehörten sie zur bürgerlichen Elite. Die zwei bekanntesten Mitglieder der Familien Reclam auf diesem Bild sind Pierre Frédéric Reclam, Prediger, und Hofjuwelier Jean Francois Reclam. Mittelpunkt des Gemäldes ist ihre Mutter, Marie Reclam, die Großmutter. Sie ist der Kern und das Zentrum der Familien, eine außergewöhnlich deutliche Repräsentation der veränderten Rolle von Großmüttern.
Die Wertschätzung der Oma-Rolle schuf gleichzeitig auch ein enges Korsett, innerhalb dessen sich die Frauen zu bewegen hatten. Großmütter sollten nicht wirtschaftlich unabhängig, nicht sexuell aktiv oder öffentlich sichtbar sein. Übertraten alte Frauen diese Idealvorstellungen, so drohte ihnen wie in der Kurzgeschichte von Bertolt Brecht die Verurteilung durch Familie und Gesellschaft als „unwürdige Greisin“.
Auf dem Land jedoch blieben Großmütter wie alle Frauen weiterhin an der Erwerbsarbeit ebenso beteiligt wie die Männer. Eine Landwirtschaft ohne Frau zu führen, war unmöglich, das galt auch für die meisten Handwerksbetriebe und erst recht für die Erwerbsarbeit von Besitzlosen – auf dem Land wie in der Stadt. Ein Lohn reichte da nicht aus, um eine Familie zu ernähren. Großmütter mussten weiterhin zum Erwerb beitragen, so lange es ging und hatten wenig Zeit, Märchen zu erzählen.
21. Jahrhundert: Die Rolle des Großvaters wird wichtiger
Heute sind Umfragen zufolge Omas und Enkel so eng verbunden wie noch nie. Räumliche Trennung und wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen einen freiwilligen und friedlichen Umgang miteinander. Und auch Großväter übernehmen immer mehr Anteile der Oma-Rolle, wie sie im 18. Jahrhundert erfunden wurde.