Warum die Nazis Angst vor moderner Kunst hatten
Am 19. Juli 1937 wurde in München die Ausstellung Entartete Kunst mit rund 650 konfiszierten Kunstwerken aus 32 deutschen Museen eröffnet. Anlässlich des 80. Jahrestags diskutiert der Kunsthistoriker Dr. Wolfgang Ullrich die Beurteilung der in dieser Schau zusammengetragenen Werke.
Als 2012 der 75. Jahrestag der Ausstellung Entartete Kunst anstand, wunderte sich die Kunstkritikerin Julia Voss in einem Beitrag im Merkur, dass allein an das Datum ihrer Eröffnung erinnert werde. Des Beginns von etwas zu gedenken, sei eigentlich nur bei „freudigen Ereignissen“ angebracht. Zwar wird die nationalsozialistische Kunstpolitik nachträglich keineswegs gutgeheißen, aber spätestens seit der Documenta 1 im Jahr 1955 reduziere man die Debatte um die „Entartete Kunst“, so Voss, auf ein bloß „stilgeschichtliches Phänomen“, so als sei es damals nur darum gegangen, wie expressionistisch oder abstrakt ein Werk sein dürfe. Daraus sei sogar regelrecht ein wohlfeiler „Ablasshandel“ entstanden. So markiere die Ausstellung Entartete Kunst einen willkommenen „Tiefpunkt der Stilgeschichte“ und stelle eine bis heute verbindliche negative Referenz dar: Je lauter man sich zu den Stilen bekennt, die die Nazis verdammten, desto fortschrittlicher und integrer steht man selbst da.
Zurecht legt Voss dar, dass zur Klassifizierung eines Künstlers als ‚entartet’ stilistische Belange für die Nazis weniger zählten als rassische und politische Kriterien. Einem Juden half es nicht, wenn er in einem altmeisterlichen Stil malte, während Franz Marcs Turm der blauen Pferde nach einer Intervention des Deutschen Offiziersbunds aus der Ausstellung Entartete Kunst herausgenommen wurde. Immerhin war Marc im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat den Heldentod gestorben.
Die Rolle der Kunst innerhalb der NS-Rassenpolitik
Tatsächlich lassen sich stilbezogene und rassisch-biologistische Begründungen dafür, warum die Nazis etwas als ‚entartet’ deklarierten, nicht voneinander trennen. Vielmehr hing das eine mit dem anderen für sie unmittelbar zusammen. Wäre es anders gewesen, hätte die Ausstellung Entartete Kunst, historisch ohne Vorbild, vermutlich gar nicht stattgefunden. Nur aufgrund einer tief sitzenden Angst und Verunsicherung konnte man darauf kommen. Dass die Ausstellung rund vier Jahre lang durch zwölf Städte wanderte und man viel dafür tat, hohe Besucherzahlen zu erzielen (allein in München mehr als zwei Millionen), zeugt ebenfalls davon, wie wichtig den Nazis das Thema war. Sie glaubten einerseits, in moderner Kunst klarer und drastischer als irgendwo sonst Phänomene rassischer Degeneration erkennen zu können, andererseits aber fürchteten sie, dass die Werke einen negativen Einfluss auf die Schönheitsideale und damit auf den eugenischen Ehrgeiz der Menschen haben könnten, damit also zu weiterem Rassenverfall beitrügen. So sehr man somit dem Topos anhing, dass Kunst ein Seismograph ist und viel über den Zustand einer Zeit verrät, so sehr attestierte man ihr zugleich manipulativ-prägende Kräfte. Und deshalb hatte man Angst vor ihr.
Obwohl die Ausstellung kurzfristig und hastig binnen weniger Wochen zusammengestellt wurde, ließ man sich einiges einfallen, um das Publikum sowohl zu alarmieren als auch die befürchteten negativen Wirkungen der Kunst zu bannen. Man pferchte rund 650 Werke in kleinen, engen Räumen zusammen, die nie für Kunstausstellungen vorgesehen waren, und hängte sie zum Teil sogar schief an die Wände, auf die man zusätzlich Schmähparolen anbrachte, mit denen die Rezeption massiv beeinflusst wurde.
Auffällig aber ist vor allem, dass die Ausstellung überproportional viele Darstellungen von Menschen enthielt, hingegen kaum Werke abstrakter Kunst, aber auch nur weniges aus Gattungen wie der Landschaftsmalerei oder des Stilllebens. Mit dieser Auswahl sollte deutlich werden, wie sehr dem Menschen in der Moderne zugesetzt wurde. Dabei warf man den Künstlern der verschiedenen Spielarten von Expressionismus weniger vor, Gesichter und Körper mit ihren Stilmitteln zu verunstalten, als man vielmehr unterstellte, diese seien Folge davon, dass Kretins, Kranke und Idioten als Vorbilder gedient hätten, ja dass es zunehmend mehr missgebildete Menschen gebe. Statt dem aber entgegenzuwirken und sich an den Schönheiten der Vergangenheit zu orientieren, würden die Künstler, selbst schon degeneriert, den Verfall nicht einmal als solchen bemerken oder sich sogar daran ergötzen.
Beschränkung auf Stilfragen
Künstlerische Stilfragen wurden von den Nazis also in rassenpolitische und sozialdarwinistische Zusammenhänge gebracht. Das unterschied sie von vielen anderen Gegnern moderner Kunst, die es schon vor ihnen gab und bis heute noch gibt. Daher aber ist es doch auch mehr als nur Ablasshandel, wenn man die Ausstellung Entartete Kunst zum Anlass nimmt, um sich speziell von den Stil-Verdikten der Nazis zu distanzieren. Vielmehr kann man so demonstrieren, dass sich Kunstwerke auch unabhängig von anderen Diskursen und apokalyptischen Geschichtsbildern betrachten lassen. Je mehr man Stilfragen einfach nur als Stilfragen ansieht, desto besser wird man der Kunst sogar gerecht, erkennt man sie dann doch in ihrer eigenen Entwicklung – ihrer Autonomie – an, statt sie aus etwas anderem heraus zu erklären. So sehr es also die nationalsozialistische Kunstpolitik verkürzt darstellt, wenn man sie auf Stilfragen beschränkt, so sehr befreit man damit die Kunst von falschen Ansprüchen.
© Annekathrin Kohout |
Dr. Wolfgang UllrichWolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor in Leipzig, war zuvor Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er forscht und publiziert zu Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, bildsoziologischen Fragen und Konsumtheorie. Mehr unter: www.ideenfreiheit.de. |