Martin Luther: Porträt einer Erinnerungskultur
Erstmals und auch einmalig ist der 31. Oktober in diesem Jahr in ganz Deutschland ein Feiertag. Im Zuge des „Reformationsjubiläums“ wird der Veröffentlichung der 95 Thesen vor 500 Jahren gedacht, in dessen Folge sich die Reformation entfaltete. Das Datum hat eine lange Tradition, stets erschuf der Zeitgeist ein eigenes Bild des Urhebers der Thesen, Martin Luther (1483–1546). Viele historische Luther-Interpretationen sind heute vergessen, manche aber feiern 2017 ihre Auferstehung. In unserer Rubrik „Geschichte aktuell“ unternimmt der Historiker Robert Kluth eine kleine Reise durch die verschiedenen Luther-Bilder der vergangenen Jahrhunderte.
Ob Luther die Thesen tatsächlich an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelte oder sie lediglich per Brief verschickte, darüber streitet sich heute die Forschung. Doch das Ereignis von 1517 ist eigentlich nicht das historisch wichtige Datum, viel bedeutsamer ist der Auftritt Martin Luthers in Worms vor Kaiser und Reich im Jahr 1521, den eine zeitgenössische Flugschrift kongenial mit dem berühmten „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ zusammenfasste. Luther war auf dem Höhepunkt seines Ruhms, fünf Jahre zuvor, 1517, war er hingegen wenig bekannt. Erst 1518 nahm die reformatorische Bewegung richtig Fahrt auf. Und dennoch wurde bereits 100 Jahre später, 1617, offiziell „Luthers Thesenanschlag“ gefeiert.
Mit diesen Feierlichkeiten begann der Aufstieg des 31. Oktobers zum „Reformationstag“. Ausschlaggebend waren bildungspolitische Interessen des 17. Jahrhunderts: Die Universitätsstadt Wittenberg wollte für ihre Universität werben und an ihren berühmtesten Professor erinnern. Bevor Worms, der Ort an dem sich Luther auf dem Reichstag verteidigt hatte, ihr den Rang ablaufen würde, wollte sich Wittenberg auf der gedenkpolitischen Landkarte einen Platz sichern. Der sächsische Landesherr griff diesen Impuls dankbar auf und machte aus 1617 eine Identitätsfeier seines lutherischen Landes, das erfolgreich dem Katholizismus trotze. 1618 begann der Dreißigjährige Krieg.
Nur wenige wissen heute noch von den großen Feierlichkeiten 1630, als der Verlesung der „Confessio Augustana“, mit der die lutherischen Länder ihr neues Bekenntnis im Reich im Jahr 1530 manifest gemacht hatten, gedacht wurde. Lange verdrängte die Erinnerung an die Confessio die Erinnerung an die Thesenveröffentlichung, das 17. und 18. Jahrhundert ist voll von Konfessionsgemälden, die das lutherische Bekenntnis feiern. Auf den Bildern demonstrieren die jeweiligen Landesherren Eintracht mit Luther. Die Politik ist Verteidigerin des wahren Glaubens, Luther selbst ist der Kirchenvater. Sein Familienleben, oder andere persönliche Eigenschaften, galten als unbedeutend.
Vom Kirchenvater zum Sprachschöpfer
Um 1700 wurden Luthers Gesichtszüge auf den Darstellungen weicher, seine Lehre wurde zu einer Herzensangelegenheit. Der Pietismus veränderte die Luther-Interpretation. Die Erneuerungsbewegung warf der lutherischen Orthodoxie vor, den Glauben rein äußerlich zu vollziehen und Luther zu einem unantastbaren Heiligen gemacht zu haben. Die Pietisten forderten eine zweite „Reformation des Lebens“ und stellten die Bibelübersetzung Luthers ins Deutsche in den Vordergrund. Damit etablierten sie einen zentralen Baustein des heutigen Luther-Bildes. Heute dürfen die deutschen Redensarten, die von Luther geprägt wurden, in keiner Rede zur Reformation fehlen.
Durch den innerlutherischen Streit war nicht mehr klar, wer Martin Luther eigentlich war. Eine Vielzahl an Luther-Bildern entstand. Die Aufklärer, in Deutschland oft Menschen die durch den Pietismus geprägt worden waren, begannen den Menschen Luther vom Glauben zu trennen, seine Person zu säkularisieren. Der Reformator wurde zum Mann des Fortschritts, der die deutsche Sprache geschaffen und „die Freiheit“ verkündet habe. Später wird der Philosoph Friedrich Wilhelm Hegel die Reformation als „Durchbruch zur Freiheit“ bezeichnen. Diese Idee verband sich schnell mit der Nationalstaatswerdung Deutschlands. 1817 feierten die Burschenschaften ihr Fest auf der Wartburg, dem Ort an dem Luther die Bibel übersetzt hatte. Luthers Protest gegen Kaiser und Papst wurde nun als unbeugsamer Widerstand gegen eine fremde, undeutsche Macht gedeutet.
Luther, ein deutscher Held
Nachdem 1806 das Heilige Römische Reich untergegangen war, wurde zunehmend ein kleindeutsch-protestantisches Luthererbe konstruiert. Ein bürgerliches Luther-Bild entstand, sein Familienleben trat in den Vordergrund. Typisch für das 19. Jahrhundert ist die Darstellung der Reformatorenfamilie rund um den Weihnachtsbaum. Luther galt nicht länger als Konfessionsbegründer, sondern wurde zunehmend ein Mann mit eigenem, persönlichem Leben. Eine wahre Flut von Illustrationen ergoss sich nach 1850 über Deutschland. Luther-Sagen entstanden, der Reformator wurde zum deutschen Helden und Patrioten. Auch 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde ihm auch diese Rolle zu Teil. Luther galt nun als Inbegriff deutschen Verteidigungswillens.
Nach 1933 gingen evangelischer Glaube und nationale Hybris eine merkwürdige Allianz ein. Luther wurde zum Symbol des „besonderen deutschen Christentums“ (Hartmut Lehmann). Die „Deutschen Christen“, die der NSDAP nahe standen, wählten das Luther-Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ als Erkennungszeichen. Der lutherische Antisemitismus erwies sich als anschlussfähig an den Rassismus der Diktatur. Zur gleichen Zeit entstanden im Ausland erste Theorien darüber, warum der Faschismus in Deutschland möglich geworden war: 1941 erschien das Buch „From Luther to Hitler“ von William M. McGovern in den USA.
Luther ist tot – oder doch nicht?
Die sozialistische Geschichtsschreibung sah in der Reformation „die Revolution Nr. 1“ (Friedrich Engels) und damit den Beginn der DDR. Sie bezog sich aber vor allem auf den Bauernkrieg von 1525: Nicht Luther wurde die zentrale Gedenkfigur, sondern der Bauernführer Thomas Müntzer. Dennoch verwandelte sich das Luther-Bild der DDR im Laufe der Zeit: Er wurde vom „Fürstenknecht“ der 1950er Jahre zum „Geehrten“ des Jahres 1983, seinem 500. Geburtstag. Eine tragende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Ausstellung „Martin Luther und seine Zeit“ im Museum für Deutsche Geschichte, der Vorgängerinstitution des Deutschen Historischen Museums.
Während 1983 in West-Berlin noch die Devise „Luther ist tot!“ galt, wählten 2003 die Zuschauer des ZDF Martin Luther nach Konrad Adenauer zum „zweitgrößten Deutschen aller Zeiten“. In den letzten zehn Jahren verstärkte sich mit der Lutherdekade noch der Rummel um die Person Martin Luther. Viele Erinnerungsbruchstücke aus den vergangenen Luther-Jubiläen schwangen hierbei mit: Mal ist Luther ein niedliches Playmobilmännchen, mal ein übergroßer Bibelübersetzer. Mal steht er für die Offenbarung der christlichen Lehre und mal für die deutsche Hybris der Vergangenheit. An seiner schillernden Person reibt sich unsere Erinnerung.