Die Revolution, die eine Weltrevolution werden sollte, jedoch nicht wurde
Die revolutionären Ereignisse in Russland von 1917 bis 1922 führten zu einem Einschnitt, der das gesamte 20. Jahrhundert prägte und bis heute nachwirkt. Anlässlich des 100. Jahrestags zeigen wir die Sonderausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“ zu den revolutionären Ereignissen in Russland und ihren Auswirkungen. Die Rede, die der Philosoph und Autor Michail Ryklin zur Eröffnung der Ausstellung am 17. Oktober hielt, veröffentlichen wir zum Jahrestag der Oktoberrevolution ungekürzt in unserem Blog.
Das von der UdSSR als Große Sozialistische Oktoberrevolution bezeichnete Ereignis erschien den damaligen Zeitgenossen, ungeachtet der überschwänglichen Gefühle bei den leidenschaftlichen Kundgebungen und der Anzahl an Leichen (die natürlich nicht zu vergleichen war mit den täglichen Verlusten an den Fronten des Ersten Weltkriegs) nicht als monumental. Kaum jemand hätte aufgrund dieser Geschehnisse die hiermit verbundenen historischen Folgen abschätzen können.
Einen Sturm auf den Winterpalast, wie ihn Sergei Eisenstein in seinem Film „Oktober“ (1927) dargestellt hat, gab es in dieser Form nicht. Der britische Botschafter schrieb in seinem Tagebuch am Tag nach den Ereignissen:
„Um halb drei morgens drangen die Gruppen der Angreifer durch Seiteneingänge in den Palast ein und entwaffneten die Garnison. Die Minister wurden verhaftet und durch die feindlich eingestellten Massen hindurch in die Festung gebracht.“¹
Der Botschafter verurteilte die terroristischen Methoden der Bolschewiken. Nichtsdestotrotz gab er zu, dass die Führer der Revolution, Wladimir Lenin und Leo Trotzki „außergewöhnliche Leute“ gewesen seien. Wären sie nicht zu jener Zeit in Petrograd gewesen, hätte es die Revolution nicht gegeben.
Einer der ersten, die die Bedeutung der Ereignisse erfassten, war der amerikanische Journalist und Harvard-Absolvent John Reed, der kurz vor dem bolschewistischen Umbruch in Petrograd aufgetaucht war. In seinem Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, das Lenin den Arbeitern aller Länder ans Herz legte, schrieb er:
„Die Bolschewiken gewannen, da sie die Bestrebungen von breiten Volksmassen widerspiegelten. Ja, einen Tag nach Einnahme des Winterpalastes schien sich oberflächlich in der Stadt nichts verändert zu haben: Es gab die gleichen stundenlangen Warteschlangen für Milch, Zucker und Tabak, die gleichen Ausstellungen, das gleiche Theaterprogramm. Doch daneben ‚krümmte sich in Qualen das riesige Russland, das eine neue Welt gebar.'“²
Weder die Ausführenden, noch die Anhänger der Oktoberrevolution zweifelten daran, dass diese der Beginn einer Weltrevolution sein würde. In der „Kette des Kapitalismus“ erwies sich Russland als das schwächste Glied. Daher gelang es auch, die Kette eben an dieser Stelle zu zerreißen. Es sollten danach unausweichlich die Revolutionen in den höherentwickelten Ländern folgen, in denen die Bedingungen günstiger waren. Das unterentwickelte Agrarland konnte die „Fackel des Kommunismus“ nicht lange stolz alleine tragen. Nach vollzogener Weltrevolution sollten die Bolschewiken den glorreichen Ruf von Vorläufern behalten, doch dann von den fortschrittlicheren westlichen Kommunisten lernen.
Die Oktoberrevolution nahm in den Augen ihrer Anhänger rasch einen universalen Status an. Sie sollte sich direkt in die von der Großen Französischen Revolution ausgehende Genealogie einreihen. Die Europäischen Linken erkannten in ihren Führern rasch Gleichgesinnte, die Rechten hingegen ihre Feinde.
Die Hoffnung auf eine Weltrevolution hat sich, wie wir heute wissen, nach einigen erfolglosen Versuchen, nicht erfüllt. Enttäuscht begannen die Bolschewiken mit Hilfe des „Komintern“ ihre Erfahrung und die Methoden für die Machtübernahme „durch eine neue Partei“ zu exportieren. Diese hatten sie im Kampf gegen das Zarentum ausgearbeitet. Doch nicht nur, dass sie im Westen nicht funktionierten, stießen sie auch eine ganze Generation revolutionärer Enthusiasten ab, die von der erfolgreichen Oktoberrevolution angezogen waren.
Die Anhänger der Revolution erwartete noch eine herbere Enttäuschung. Im Herbst 1918 begann der „Rote Terror“. Er erschütterte die ganze Welt durch seine gnadenlose Logik. Es zeigte sich, dass man Menschen nicht nur für begangene Verbrechen töten konnte, sondern auch einfach nur für die Zugehörigkeit zu einer Klasse, die als ausbeuterisch erklärt worden war. Wie der Volksschriftsteller Wladimir Korolenko, der als das „Gewissen Russlands“ anerkannt ist, empört feststellte, war die Tätigkeit der bolschewistischen Außerordentlichen Kommission (TscheKa), die die Ermittlungen führte, die in Beschlüssen und der Ausführung von Urteilen resultierten, in der Geschichte der Kulturvölker einzigartig. Unter dem alten Regime gab es vereinzelt Fälle von blinder Wut einer Menge, von Selbstjustiz, oder Taten von zu weit gegangener zaristischer Tyrannei. Die Anhänger Lenins jedoch, und das war das Furchtbare, gaben der Gesetzlosigkeit eine theoretische Basis. Nicht weniger heftig reagierten auf den TscheKa-Terror die westlichen Marxisten, von Karl Kautsky bis Rosa Luxemburg.
Mit dem Ende des Bürgerkrieges ging die Willkür zurück, doch an der Revolution blieb der Schandfleck haften.
Anfang 1921 wurde die „Neue Ökonomische Politik“ ausgerufen. Man räumte der Bourgeoisie gewisse Konzessionen ein, die bis 1928 so blieben. In diesem Zeitraum zeigte sich die Revolution von ihrer besten Seite. In Architektur, Theater, Kunst, Literatur und Design zeigte die neue Kultur Errungenschaften, die von der ganzen Welt anerkannt wurden. Frauen und nationale Minderheiten genossen kurz zuvor noch unvorstellbare Rechte. Der proletarische Internationalismus blieb kein leeres Gerede, sondern wurde in die Tat umgesetzt. Ungeachtet der Misserfolge der kommunistischen Auftritte in Deutschland und China, hielt sich der Glaube an die Weltrevolution (vor allem bei der beflügelten Komsomol-Jugend). Der Ruhm der alten Bolschewiken blieb unangefochten.
Außerdem waren die 20-er Jahre eine relativ „satte“ Zeit. Der Tscherwonez (10 Rubel in Gold) stand in hohem Kurs. Der Großteil von Sowjetmenschen, die Bauern, zahlten Lebensmittelsteuern und erinnerten sich nur mit Schrecken noch an die Überfälle der Lebensmittel-Eintreiber während dem Bürgerkrieg.
All dem wurde 1930, dem Jahr des Großen Umbruchs und des Beginns der Kollektivierung, ein Ende bereitet. Die Historiker bezeichnen dies als die zweite, die stalin´sche Revolution. Die „Titanic“ der städtischen Revolutionskultur stieß auf den „Eisberg“ der Bauern-Welt und erlitt Schiffbruch. Stalin, der 1922 zum Generalsekretär der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken aufstieg, galt in den 20-er Jahren als „Erster unter Gleichen“. Er kämpfte erfolgreich gegen die verschiedensten politischen „Abweichungen“ und räumte einen Konkurrenten nach dem anderen aus dem Weg. Vor allem jedoch hetzte er die Partei auf seinen Erzfeind, Leo Trotzki. 1929 gelang es ihm, ihn aus der UdSSR zu verbannen. Das vom Generalsekretär erfundene Wörtchen „Trotzkismus“ wurde allmählich zu einem schrecklichen politischen Brandmal, zum Symbol für den schlimmsten Feind des ebenfalls von ihm als Begriff eingeführten „Leninismus“. Ab diesem Zeitpunkt war es strengstens verboten, den Oktoberhelden und Mitbegründer der Roten Armee in Zusammenhang mit der Revolution und dem Bürgerkrieg zu erwähnen. Die Geschichte wird neu geschrieben. (Um bei der Wahrheit zu bleiben, hielt sich dies, im Vergleich zum Ausmaß der 30-er Jahre noch in Grenzen.)
Die Kollektivierung und forcierte Industrialisierung, mit denen ein ungeahntes Maß an Terror, eine furchtbare Verarmung der Bevölkerung und die endgültige Etablierung der Stalindiktatur einhergingen, riefen den Zorn vieler alter Bolschewiken und Komsomolzen der 20-er Jahre hervor. Stalin wurde vom „Ersten unter Gleichen“ zum „aktuellen Lenin“. Die Anhänger Bucharins, Sinowjews und Trotzkis vereinigten sich im Sommer 1932, von den Komsomol-Führern unterstützt, mit dem Ziel, Stalin und seine Clique gewaltsam zu stürzen. Das Ergebnis dieser Vereinigung, die Schrift „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur“ (die sogenannte „Rjutin-Plattform“), fiel der OGPU in die Hände. Stalin forderte für Rjutin die Todesstrafe, fand aber im Politbüro keine Unterstützung (noch galt das Tabu für die Erschießung alter Bolschewiken.) Die Unruhestifter wurden aus der Partei ausgeschlossen und verbannt. Rjutin wurde ins Gefängnis gesteckt.
In den Jahren 1936-1940 wird die Lenin-Garde im Rahmen des Großen Terrors in den Folterkammern des NKWD ohne Ausnahme ausgemerzt. Von den aktiven Revolutionsteilnehmern sind 1940 nur eine Handvoll Leute aus dem engen Kreis des Diktators am Leben, und noch ein paar Glückspilze, die sich in entlegenen Winkeln verstecken konnten. Die Repressionen erstreckten sich auch auf die Familienangehörigen, einschließlich der kleinen Kinder. Es wurden nicht einmal die alten Bolschewiken verschont, die niemals an Aufständen beteiligt waren, die sich auf der Parteilinie bewegt hatten, die Loblieder auf den Diktator gesungen hatten. Sie waren als Zeugen ebenfalls zu gefährlich. Danach wurde die Geschichte der Allrussischen Kommunistischen Partei der Bolschewiken endgültig nach Stalins Vorstellungen umgeschrieben.
Ich bin der Überzeugung, dass ein solch gnadenloser und umfassender Gewaltakt, wie er einer ganzen Generation von „Lenin-Augenzeugen“ widerfahren ist, in der Geschichte einzigartig ist. Den Opfern wurde eine Beerdigung vorenthalten. Ihre Leichen wurden nach einer heimlichen Erschießung entweder in Krematorien verbrannt und die Asche verstreut, oder in Massengräbern verscharrt. Die Bestattungsorte der Opfer des Großen Terrors beschränken sich auf die von den überlebenden Verwandten errichteten Gedenktafeln, die eine symbolische Erinnerung daran sind, dass es diese Menschen gegeben hat.
Die Oktoberrevolution ist ein Ereignis, dass die russische Geschichte direkt mit der europäischen und der Weltgeschichte verbindet. Sie hatte es sich zum Ziel gesetzt, den absterbenden Kapitalismus zu beerdigen, doch, entgegen der Absicht ihrer Teilnehmer (und dies war wohl eine Finte des „Weltbewusstseins“) genau das Gegenteil bewirkt.
„… Die Geschichte des ‚kurzen zwanzigsten Jahrhunderts'“, schreibt der Historiker Eric Hobsbawm, „kann man ohne die Russische Revolution und ihre direkten und indirekten Folgen nicht verstehen. Faktisch hat sie den liberalen Kapitalismus gerettet, indem sie dem Westen ermöglicht hat, den Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland zu gewinnen, und dem Kapitalismus einen Impuls zur Selbstreformierung gegeben hat…“³
In Russland hat man nicht vor, den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution in großem Rahmen zu feiern. An der Spitze des Organisationskomitees steht … der Chef der Auslandsspionage!
Anscheinend befürchten die Machthaber, dass das genetische Gedächtnis der Massen erwachen könnte, dass man sich an das befreiende Potential der Revolution erinnern könnte. Diese Erinnerung wurde unter Stalin mit einem glühenden Eisen ausgelöscht.
Kurz gefasst, ist es zu früh, die Oktoberrevolution in ein Archiv zu räumen und als ein historisches Gut abzutun. In ihrer Heimat ist sie ein Teil der Gegenwart, ein Gegenstand des politischen Kampfes.
Quellen
¹ Джордж Бьюкенен. Мемуары дипломата. Москва, Международные отношения, 1991, С. 304 [George Buchanan: Die Memoiren eines Diplomaten. Moskau, “Mezdunarodnyje otnosenija”-Verlag 1991, S. 304]
² Джон Рид. Десять дней, которые потрясли мир. СПб, Лениздат, С. 56 [John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. St. Petersburg, “Lenizdat”-Verlag, S. 56]
³ Эрик Хобсбаум. Эпоха крайностей. Короткий двадцатый век 1914-1991, Издательство «Литературная газета», 2004, С.96 [Eric Hobsbawm: Das Zeitalter von Extremen. Das kurze zwanzigste Jahrhundert 1914-1991, “Literaturnaja gazeta”-Verlag 2004, S. 96]
Michail RyklinMichail Ryklin, 1948 geboren, arbeitet am Institut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 2007 erschien der Essay „Mit dem Recht des Stärkeren“, für den er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2007 ausgezeichnet wurde. |