Willi Ruge. Fotos für eine neue Zeit
Schneller, spektakulärer und vor allem selbst mittendrin – die Fotografien Willi Ruges wirken wie unmittelbare Vorläufer heutiger Instagram-Bilder. Mit eigenwilligen Perspektiven transportierte er nicht nur die Sensation bestimmter Ereignisse, sondern nahm an den Ereignissen wie einem Fallschirmsprung oder einem Autorennen teil und wurde so selbst Teil der Aufnahme. So wurde er prägend für die Bildsprache seiner Zeit. Sein eindrucksvolles Bild von der Deutschen Bomberstaffel im Anflug auf Paris aus Jahr 1940 ist in unserer Sonderausstellung zu sehen. Dr. Katrin Bomhoff, Kuratorin der Ausstellung „Die Erfindung der Pressefotografie“ und Mitarbeiterin von ullstein bild, über einen Fotografen, der sich den Themen seiner Redaktion über Selbstversuche annäherte und einen neuen Stil der Pressefotografie prägte.
Die Bestandsaufnahme bei ullstein bild aus der Gründungszeit der fotografischen „Sammlung Ullstein“ in Berlin verzeichnet unter der Überschrift „Willi Ruge“ (1892–1961) eine Reihe formvollendet handgeschriebener Dokumente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie tragen Notizen zu den Bildmotiven und -serien des Fotografen, die sich lesen wie die Titel eines auf puren Spannungsreichtum ausgelegten Reiseberichts:
• Meine gefährlichste Aufnahme! – knipst seinen eigenen Fallschirm-Absprung
• Mit Caracciola über die Avus.
• Aufnahmen aus Pernambuco.
• Der Krieg um den Gran Maco.
• Gauchos zähmen Wildpferde in der argentinischen Pampa.
• Sind Sie ein Detektiv?
• Kap-Kairo, wie noch nie!
• 24 Stunden Vollgas – und die Familie hilft mit.
• Wasser-Springer – in der Luft gebremst.
• Mut – vielfach erprobt.
Die Notizen spiegeln nicht nur unterschiedlichste Bildreportagen wider, sondern auch die redaktionelle Erarbeitung dieser Themen, sie sprechen von dem Zusammenspiel mehrerer Kräfte unter dem Dach des zu dieser Zeit führenden Zeitungs- und Zeitschriftenverlags Ullstein in Berlin: das fotografische Werk Willi Ruges, die Themenfindung der Redaktionen mit Blick auf ein breit gestreutes Lesepublikum auflagenstarker Zeitungspublikationen wie die „Berliner Illustrirte Zeitung“ – 1905–1933 unter ihrem Chefredakteur Kurt Korff – und nicht zuletzt die Auftragslage. Sie vermitteln gleichzeitig das Themenspektrum, mit dem Willi Ruge bekannt wurde und Aufsehen erregte.
Sturz der Himmelsstürmer
Nicht umsonst wird er zeitgenössisch bei Ullstein als „Flieger und Fotograf“ tituliert, seine Aufnahmen während des eigenen Fallschirmabsprungs in Staaken bei Berlin sprechen von dem Wagemut dieses Selbstversuchs. Sie erinnern an die Ikonographie vom Sturz der Himmelsstürmer, der hier eine neue und moderne Ausdrucksform erfährt: die Folgen des Ikarus-Fluges, visualisiert dank eines fotografischen Experiments. Es verwundert nicht, dass eine Fotoserie eigenwilliger Flugversuche in der Berliner Illustrirten Zeitung von 1934 vorgestellt wird mit der Bildunterschrift „Der Traum des Ikarus, mit den Mitteln modernster Technik“ und weiter: „Wirklichkeit geworden: Der erste Mensch, dem ein Flug aus eigener Körperkraft gelang.“
Auch mit anderen Unternehmungen Ruges verknüpft sich die progressive und gestaltende Arbeitsweise des Fotografen: die 1931 aus dem fahrenden Rennwagen Rudolf Caracciolas heraus entstandene Bildserie demonstriert die extreme Wahrnehmung und Wiedergabe von Geschwindigkeit, die Verzerrung und Unbestimmbarkeit von Perspektive. Nicht nur das Autorennen, auch die direkte Umgebung wird zum Bildgegenstand.
Höchstleistungen in allen Disziplinen
Die mit der Inventarisierung bei Ullstein stichwortartig aufgerufene Gefahrenzone des Fotografen ist geprägt von mehreren Faktoren, die für ein Verlagshaus dieses Formats entscheidend bleiben: Aktualität, Nachrichtenwert, Attraktion und auch Sensation. Der Mitarbeiter Willi Ruge begibt sich im Auftrag von Ullstein auf eine Argentinien-Reise, entwirft Bildberichte zu einem Afrika-Flug oder widmet sich den Spitzenleistungen des olympischen Wintersports. Die Zeitungspublikationen gewähren folglich seinen Bildzyklen großformatig und großzügig angelegte Themenseiten. Allen voran die „Berliner Illustrirte Zeitung“ mit Themenkreisen, die einerseits sportliche Höchstleistungen in verschiedensten Disziplinen und Elementen präsentieren, und andererseits Einblicke gewährt in Szenerien alltäglichen Lebens oder politische Entwicklungen. Dabei greift die redaktionelle Bearbeitung zu einem bewährten Mittel: der Bildmontage. Sportliche Rekorde werden im Vergleich visualisiert: Eisschnellläufer und Radrennsportler treten gegeneinander an, sogar Viererbob und Eisenbahn – Mensch und Maschine – nehmen es miteinander auf.
Die Publikation der Fotografien erfährt deutlich an Bedeutungsschwere, sobald sich die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland am Militarismus des Regimes ausrichten, der in einem verheerenden Weltkrieg endet. Willi Ruge wird mit Arbeiten als Berichterstatter der Luftwaffe beauftragt. Der Bildbetrachter blickt nun auf die Welt durch den Sucher und das Fadenkreuz des Maschinengewehres, erfährt von den Einsätzen der Wehrmacht oder sieht sich einer Heroisierung der deutschen Flakabwehr gegenüber. Aus dem Flugexperiment wird martialische Aggression, aus dem wirkungsvollen Bildmotiv wird Propaganda – es herrscht Krieg.
Die Ausstellung „Die Erfindung der Pressefotografie. Aus der Sammlung Ullstein 1894–1945“ ist noch bis zum 1. Januar 2018 zu sehen.
Dr. Katrin BomhoffDr. Katrin Bomhoff ist Kunsthistorikerin/Kuratorin und leitet den Bereich „Asset & Exhibition“ bei ullstein bild, Axel Springer Syndication GmbH in Berlin. |