Unbefriedigte Neugier – Rekonstruktion eines fast verschwundenen Gefühls
Was ist sie eigentlich, die Neugier? Gibt es sie noch in Anbetracht heutiger Bilderflut und was war sie früher? Anlässlich der Ausstellung „Gier nach neuen Bildern“ untersucht der Kunsthistoriker Dr. Wolfgang Ullrich das Wesen und die Geschichte der Neugier.
Neugier war lange ein Laster. Wie jede andere Art von Gier droht sie den Menschen zu überwältigen und maßlos zu machen. Wer neugierig ist, begnügt sich nicht mit dem, was ihn oder sie umgibt. Es erscheint als zu wenig, zu harmlos, zu bekannt, zu endlich. Die Neugier treibt daher immer über das Hier und Jetzt hinaus. Sie ist die Sehnsucht, Zugriff auf andere Zeiten und Orte zu haben und sie herholen zu können. Damit aber ist der Neugierige nicht mehr gegenwärtig, sondern zerstreut, ist nicht bei sich und inmitten seiner Umwelt, sondern irgendwo und nirgendwo. Und eben deshalb erschien die Neugier als unheimliche Kraft, gar als Teufelssache. Der Kirchenvater Augustinus verdammte sie am heftigsten: als gefährlicher denn Wollust, die nur dem Schönen gelte, ja als etwas Krankhaftes, da sie sich auf alles und jedes und selbst auf das Hässlichste und Grausamste richte, solange es nur neu sei. Das werde ausgenutzt, Schwindel und Zauberei hätten dank der Neugier immer Konjunktur, was zugleich bedeute, dass das rechte Verhältnis zu Gott verlorengehe. Auch von ihm würden vor allem Wunder verlangt, und statt sich in Gebet und Kontemplation zu üben, seien die Menschen fortwährend abgelenkt.[1]
Augustinus verortet das Zentrum der Neugier in den Augen. Als Distanzsinn hat das Sehen stärker als andere Sinne die Tendenz, in die Ferne zu schweifen. Es geht über den Körper und die unmittelbare Umgebung des jeweiligen Menschen hinaus, kann aber genauso ein Vorausschauen und Zurückblicken sein und damit die Gegenwart transzendieren. Dem in allen Richtungen suchenden Blick kommt das Neue manchmal jedoch auch entgegen – in Form von Bildern. Mit ihrer Hilfe lässt sich etwas, das anderswo passiert ist, zu den Neugierigen transportieren; räumliche und zeitliche Distanzen, die das Auge nicht zu überblicken vermag, sind auf diese Weise zu überbrücken. Bilder sind zudem nicht darauf beschränkt, etwas zu zeigen, das wirklich existiert oder stattgefunden hat, vielmehr kann sich auf ihnen jegliche Phantasie ausleben und für andere Menschen sichtbar gemacht werden. Damit sind Bilder erst recht „das“ Medium der Neugier, stehen aber auch von vornherein im Verdacht, ihrerseits etwas Lasterhaftes zu sein.
Neugier wurde umso mehr als schlimm und sündhaft empfunden, weil sie meist unbefriedigt blieb. Dann bohrten sich die Blicke überall hinein, um doch noch Unbekanntes zu entdecken, ja dann verlor man sich erst recht in allen Richtungen, immer lauernd, wo sich etwas tun könnte.
Und wenn plötzlich etwas passierte, machte „die Neugierde […] jeden Zuschauer fünf Zoll größer, und seine Augen […] um einen halben Zoll weiter“, wie es 1774 in einem „Toleranz-Brief an die Oberhessische Geistlichkeit“ anschaulich formuliert wurde.[2]
Unerfüllte Neugier bedeutete hingegen nicht nur quälende Langeweile, sondern konnte zu Unduldsamkeit oder Depression führen, brachte die betroffenen Personen also um ein gutes Verhältnis zu ihrer Umwelt. Bilder verhießen in dieser misslichen Lage Erlösung, zumindest eine kurzfristige Linderung des Leidens an der Neugier. Aber sie waren selten, selbst nach Erfindung druckgrafischer Techniken eine Mangelware. Vor allem aber eine Ware, denn die Menschen waren gerne bereit, zu zahlen, wenn es der Befriedigung ihrer Neugier diente. Bilderhändler zogen von Dorf zu Dorf, vertrieben offiziell Heiligenbilder und inoffiziell Pornografie, Bänkelsänger wanderten ebenfalls durchs ganze Land und zogen ihr Publikum mit spektakulären Bildern von Katastrophen, Unglücken und Verbrechen in ihren Bann, gesteigert durch eindringliche Texte und musikalische Untermalung.
Die Ausstellung „Gier nach neuen Bildern“ zeigt etliche Darstellungen solcher Händler und Sänger, und eigentlich immer ist diesen Blättern zu entnehmen, wie sehr sich mit Bildern einerseits das Glück verband, die eigene enge Welt überschreiten zu können, wie sehr ihr Genuss andererseits aber von schlechtem Gewissen begleitet war, dadurch auf Abwege und in Niederungen zu geraten. Aus der Zeit ebenfalls um 1775 stammt etwa eine Radierung von Friedrich Müller, die einen Bänkelsänger zusammen mit zwei Musikanten in einem kleinen, ärmlichen Dorf zeigt. Genau in der Mitte des Blattes sieht man eine an einem Stecken befestigte, ausgerollte Bildtafel. Hell hebt sie sich von dem dunklen Hintergrund der alles andere als schmucken, reizlosen Häuser ab und steht damit – wie ein Leuchtzeichen aus einer besseren Welt – umso mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit. Um die Tafel herum haben sich etliche Leute gruppiert, wirken aber ein wenig verloren und ziemlich passiv. Kinder sind darunter, ein verwachsener Greis, ferner ein Paar, das betrunken zu sein scheint. Es handelt sich also gerade nicht um feine Stände und moralische Vorbilder, vielmehr erweckt die gesamte Szenerie den Eindruck, das Zeigen von Bildern sei etwas recht Derbes, das auf die niedrigsten Instinkte abziele. Auch Katzen und Hunde nehmen an der Vorführung teil: ein weiteres Indiz dafür, dass bloß die Triebe, aber nicht der Verstand angesprochen sind.
Wie sehr vor Neugier und Bildern gleichermaßen gewarnt wurde, macht etwa eine Predigt des französischen Bischofs Antoine Godeau deutlich, die aus derselben Zeit stammt. 1770 wurde sie in deutscher Übersetzung – und ebenso wie Müllers Grafik in Augsburg – veröffentlicht. Godeau tadelt darin Augenlust im Allgemeinen, seien die Augen doch „die Fenster, durch die der Teufel in euer Herz eindringet“, und die Betrachtung „unzüchtiger Bilder“ im Besonderen.
Diese dienten nur der Neugier – und „auf die Neugier folgt die Begierde: auf die Begierde folget das Nachsuchen: auf das Nachsuchen der Besitz: nach dem Besitze die Wiederholung: nach der Wiederholung die Gewohnheit: nach der Gewohnheit die Nothwendigkeit: nach der Nothwendigkeit die Unbußfertigkeit: nach der Unbußfertigkeit der Tod in der Sünde: nach dem Tode in der Sünde das ewige Feuer“.[3]
Führte im 18. Jahrhundert also noch ein direkter Weg von Neugier und Bildern in die ewige Verdammnis, so haben sich die Zeiten seither geändert. Die Neugier wird mittlerweile meist als positive Eigenschaft verstanden und mit Wachheit und Wissensdurst assoziiert. Das aber dürfte nicht nur am abnehmenden Einfluss von Religion und Kirche liegen, sondern auch damit zu tun haben, dass Neugier heute viel öfter befriedigt werden kann als früher und daher nicht als quälend erfahren wird und auch nicht mehr destabilisierend wirkt. Das wiederum ist Folge einer für frühere Zeiten unvorstellbaren Vermehrung der Bilder. Aber nicht nur die Zahl der Bilder ist durch diverse technische Innovationen – von der Fotografie bis zur Digitalisierung – explodiert, vor allem wurde auch erreicht, dass sie heutzutage in jedem Moment an jeden Ort übertragen werden können. Wo es früher noch Menschen brauchte, die Bilder in kleinen Mengen transportierten und die vermutlich mit dem Wenigen, was sie präsentierten, mehr Sehnsüchte weckten als sie zu stillen vermochten, kann man heute sekundenschnell Live-Aufnahmen aus der gesamten Welt, aber genauso Bilder aus beliebigen Genres und Epochen auf einen Bildschirm holen. Dabei sind die Bilder nur noch in den wenigsten Fällen eine Ware. Vielmehr lassen sie sich, statt nur in begrenzter Auflage zu existieren, beliebig oft reproduzieren und sind so zahlreich, dass sie nie mehr ein knappes Gut sein können, für das ein Preis zu verlangen und zu zahlen wäre. Das Gefühl unbefriedigter Neugier ist also fast gänzlich verschwunden. Und dafür dürfte es in der Kulturgeschichte kaum Parallelen geben. Oder wann sonst sollte ein seit Menschengedenken stabil vorhandenes Gefühl so schnell und so weitgehend seine Voraussetzungen verloren haben?
Dass es statt Knappheit nun Überfluss gibt, verführt Diagnostiker allerdings erneut dazu, die Zeigefinger zu heben. Besorgt sprechen sie von der Bilder-, der Reiz- oder der Informationsflut, und so gerne die Neugier früher als Überreaktion infolge eines Mangels interpretiert wurde, so gerne unterstellt man nun Gefühle von Ohnmacht und Überforderung als Folge eines Zuviels an ständig Neuem. Die Menschen würden „cyberkrank“, behauptet etwa Manfred Spitzer, der als Gehirnforscher ungefähr so viel Autorität besitzt wie ehedem ein Bischof oder Priester. Wie etliche andere klagt er darüber, dass zahlreiche Menschen heute angesichts der digitalen Welt und der vielen Bildschirme und Displays „das Gefühl haben, nicht mehr folgen zu können, und resignieren“. Der Überflutete wird genauso wie der Neugierige als jemand beschrieben, der sich selbst verloren hat, dem die Mitte abgeht und der entwurzelt ist:
„Wir hecheln hinterher und wissen zugleich, dass wir keine Chance haben.“[4]
Und wo ehedem das ewige Höllenfeuer drohte, da geht nun die Angst vor der „digitalen Demenz“ um.[5]
So findet der religiös-moralische Diskurs in kulturkritisch-paramedizinischen Zeitdiagnosen seine Nachfolge. Und wieder stehen besonders Bilder unter Verdacht. Diesmal warnt man am liebsten vor den Bildplattformen der Sozialen Medien, vor allem vor „Instagram“ mit den vielen Selfies, mit Food-Porn und Cat-Content, die angeblich einmal mehr bloß die niedrigsten Instinkte der Menschen bedienen. Hier droht nicht nur irgendeine Flut, sondern eine Flut aus Trash und Schund. Und sollte einer dieser Bild-Pessimisten sich nochmal genau die Radierung Friedrich Müllers anschauen, könnte er ihr sogar eine prophetische Qualität zusprechen: Sieht die Anordnung der Bilder auf der dort gezeigten Tafel – mit jeweils drei quadratischen Bildflächen nebeneinander – nicht schon genauso aus wie die Darstellung der Bilder eines „Instagram-Accounts“?
Verweise
[1] Vgl. Aurelius Augustinus: Confessiones, X, 35.
[2] Toleranz-Brief an die Oberhessische Geistlichkeit, Frankfurt/Main 1774, S. 3, auf: https://opacplus.bsb-muenchen.de/Vta2/bsb10041267/bsb:BV019714671?
[3] Antoine Godeau: Homilien über alle Sonn- und vornehmste Festtags-Evangelien des Jahres, Augsburg 1770, S. 239f. – auf: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10459346_00001.html.
[4] Manfred Spitzer: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert, München 2015, S. 29.
[5] Vgl. Ders.: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2012.
© Annekathrin Kohout |
Dr. Wolfgang UllrichWolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor in Leipzig, war zuvor Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er forscht und publiziert zu Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, bildsoziologischen Fragen und Konsumtheorie. Mehr unter: www.ideenfreiheit.de. |