Der „Nansen-Pass“
Infolge des Ersten Weltkrieges waren um 1920 insgesamt bis zu 9,5 Millionen Menschen auf der Flucht, unter ihnen auch die große Gruppe der aus Russland Geflüchteten. Die hohe Zahl an Flüchtlingen stellte Europa vor große Herausforderungen. Aufgrund ihres unsicheren Status setzte sich der norwegische Diplomat Fridtjof Nansen als Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes für ein international gültiges Reise- und Ausweisdokument ein. Am 5. Juli 1922 beschloss der Völkerbund in Genf, einen Ausweis einzuführen: den „Nansen-Pass“. Julia Franke, Kuratorin der Ausstellung „1917. Revolution.“ beschreibt in ihrem Beitrag, wie es zu dem Pass kam.
Vladimir Nabokov nannte ihn ein „höchst minderwertiges Dokument von kränklich grüner Farbe“. Der russische Schriftsteller war 1922 nach Berlin gekommen und erlebte die mit der Antragstellung verbundenen Formalitäten als mühevolle Last:
„Sein Inhaber war wenig mehr als ein auf Bewährung entlassener Verbrecher und hatte die größten Strapazen auf sich zu nehmen, wenn er etwa ins Ausland reisen wollte – je kleiner die Länder, desto mehr Umstände machten sie.“
Auch wenn der Nansen-Pass seinem Inhaber also keinen dauerhaften Aufenthalt garantierte, so gewährte er ihm dennoch gewisse Rechte und konsularische Hilfen wie etwa die amtliche Beglaubigung seiner Identität oder seines Familienstandes. Damit war er eine erste Lösung auf supranationaler Ebene für einen international anerkannten Identitätsnachweis und ein international gültiges Reisedokument.
Wie aber kam es überhaupt zum Nansen-Pass? Mit der Februarrevolution, der Abdankung des Zaren und dem Herrschaftsantritt der Bolschewiki im Oktober 1917 sahen sich zahlreiche gesellschaftliche Gruppen Verfolgung, Enteignung und Repressionen ausgesetzt. Der anschließende Bürgerkrieg und die Gründung der Sowjetunion 1922 verschärften die Situation noch einmal. Eine unmittelbare Folge dieser Entwicklungen war die Emigration aus Russland: Weit mehr als eine Million Menschen – einigen Schätzungen zufolge sogar bis zu zwei Millionen – gingen ins Exil. Nach der Gründung der Sowjetunion 1922 wurden alle Personen, die das Land zuvor verlassen hatten, formal zu Staatenlosen. Auf Initiative des prominenten norwegischen Polarforschers und damaligen Hochkommissars für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes, Fridtjof Nansen, wurde deshalb 1922 der sogenannte Nansen-Pass als internationales Reise- und Ausweisdokument eingeführt. Ziel war es, Menschen ohne Staatsangehörigkeit ein Mindestmaß an Schutz und Freizügigkeit zu gewähren. Der jährlich zu erneuernde Pass gestattete zwar keinen dauerhaften Aufenthalt, aber die Wiedereinreise in das ausstellende Land.
Die Verantwortlichen beim Völkerbund gingen zunächst von einer späteren Repatriierung aus, doch diese Annahme erwies sich als Illusion. Denn viele Geflüchtete konnten oder wollten nicht mehr in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Die russischen Emigranten beispielsweise hatten nach der Gründung der Sowjetunion keine Staatsangehörigkeit mehr und konnten sich ihre Identität nicht durch einen anerkannten Staat bestätigen lassen.
Der zunächst nur für die russischen Emigranten geltende Pass wurde sukzessive auf andere Flüchtlingsgruppen ausgeweitet: 1924 auf die Armenier und 1928 auf andere christliche Minderheiten aus dem ehemaligen Osmanischen Reich. Sein Initiator Fridtjof Nansen wurde 1922 für sein humanitäres Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
In der Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“ des Deutschen Historischen Museums ist derzeit der „Nansen-Pass“ von Tamara Matul zu sehen. Die 1905 in Moskau geborene Tamara Matul kam vor 1920 mit ihren Eltern und ihrem Bruder Sergej nach Berlin. Die Familie lebte in der Nachodstraße 26 in Wilmersdorf. Matul arbeitete später als Komparsin beim Film. Dort lernte sie Rudolf Sieber, den Ehemann Marlene Dietrichs, kennen und wurde seine Lebensgefährtin. Fortan reiste sie mit der Familie Sieber/Dietrich. Ihr Nansen-Pass ermöglichte die Reisen – so auch in die USA.