Der Anschluss Österreichs an Deutschland 1938
Bereits vor den Novemberpogromen 1938 spitzte sich die Situation der deutschsprachigen Jüdinnen und Juden zu. So steigt mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938 die Gewalt und öffentliche Diskriminierung gegenüber Juden in Österreich stark an. Die Historikerin Miriam Bistrovic vom Berliner Büro des Leo Baeck Instituts New York zeichnet die Ereignisse dieser Tage in ihrem Blog-Artikel nach. In dem von ihr mitbetreuten virtuellen Kalender 1938Projekt – Posts from the Past können Sie nachlesen, welche Erfahrungen Jüdinnen und Juden in diesen Tagen machen.
„Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen!“ verkündete Kurt Schuschnigg am Abend des 11. März 1938 in seiner Radioansprache. Aussagen, dass Unruhen stattgefunden hätten oder die Regierung nicht Herr der Lage sei, wies er hingegen entschieden zurück. Wenige Stunden zuvor war er als österreichischer Bundeskanzler zurückgetreten und bat nun das Militär und die Bevölkerung im Falle eines deutschen Einmarsches keinerlei Widerstand zu leisten.
In den zurückliegenden Monaten war Österreich zunehmend unter Druck geraten. Im Berchtesgadener Abkommen vom 12. Februar 1938 hatte Adolf Hitler die Einsetzung Arthur Seyß-Inquarts als Innen- und Sicherheitsminister durchgesetzt und eine Einbindung der österreichischen Nationalsozialisten in die Regierung gefordert. Trotzdem hatte Kurt Schuschnigg am 24. Februar 1938 im Wiener Parlament unter frenetischem Jubel der Zuhörenden die österreichische Unabhängigkeit verteidigt und dabei die martialische Losung ausgegeben: „Darum Kameraden: bis in den Tod: Rot-Weiß-Rot“. Die angespannte außenpolitische Situation zwischen Deutschland und Österreich eskalierte, als Kurt Schuschnigg am 9. März 1938 bekannt gab, am darauffolgenden Sonntag eine Volksabstimmung über die zukünftige Unabhängigkeit des Landes abhalten zu wollen. Durch die dabei begangenen Verfahrensfehler bot er seinen Gegnern die Gelegenheit, in Aktion zu treten. Deutschland stellte Österreich ein befristetes Ultimatum, die Regierung nach den Vorschlägen der deutschen Reichsregierung zu bestellen und drohte bei Zuwiderhandlung mit Entsendung von Truppen. Wie die im österreichischen Rundfunk (RAVAG) ausgestrahlte Rede verdeutlichte, bezweifelten weder Kurt Schuschnigg noch Bundespräsident Wilhelm Miklas die Entschlossenheit Adolf Hitlers, diese Drohung in die Tat umzusetzen. Schuschnigg beendete seine eindringliche Rede am 11. März 1938 daher mit dem innigen Wunsch: „Gott schütze Österreich“. Während der ehemalige Bundeskanzler noch seine Landsleute beschwor, „die Entscheidungen der nächsten Stunden abzuwarten“,[1] übernahmen österreichische Nationalsozialisten bereits die Kontrolle über den öffentlichen Raum. Im vorauseilenden Gehorsam hissten sie Hakenkreuzflaggen an öffentlichen Gebäuden und griffen Juden auf offener Straße an. „Nun haben wir einen neuen Trauertag in den Annalen unserer Geschichte“, notierte der 1913 in Wien geborene jüdische Jura-Student Paul Steiner am gleichen Abend in seinem Tagebuch.[2]
Deutsche Truppen überqueren die österreichische Grenze
Der Marschbefehl an das deutsche Militär war zu dem Zeitpunkt bereits erfolgt. Noch in der Nacht zum 12. März 1938 überquerten deutsche Truppen die Grenzen Österreichs. Der Rücktrittsrede Kurt Schuschniggs entsprechend leistete das österreichische Heer keine Gegenwehr. Doch auch große Teile der Bevölkerung begegneten der Wehrmacht ohne Widerstand. Stattdessen wurden die eintreffenden Soldaten laut Augenzeugenberichten freudig begrüßt.
Gewalteskalation und öffentliche Diskriminierung
Am 13. März 1938 wurde nach Eintreffen Adolf Hitlers in Linz das „Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ (RGBl. I 1938, S. 237) vorgelegt. Wilhelm Miklas verweigerte dessen Beurkundung und trat zurück, wodurch die Verfügungsgewalt an den inzwischen zum Bundeskanzler ernannten Arthur Seyß-Inquart überging. Durch seine Unterschrift wurde das Gesetz rechtskräftig verabschiedet. Der „Anschluss“ Österreichs war offiziell vollzogen.
Bereits unmittelbar danach erfolgten Übergriffe auf Jüdinnen und Juden. Es kam zu Plünderungen und „wilden Arisierungen“, in denen jüdische Eigentümer ihrer Geschäfte und ihres privaten Besitzes beraubt wurden. Betriebe und Kaufhäuser warben ab Mitte März in Zeitungsannoncen damit, nun „arisch“ zu sein – langjährige jüdische Mitarbeiter wurden kurzerhand entlassen. Mit dem „Gesetz für Vereidigung der Angehörigen des öffentlichen Dienstes“ vom 15. März 1938 wurden im Zuge des „Anschlusses“ sämtliche Personen, die auf Grund der Nürnberger Gesetze als Juden galten, vom Staatsdienst ausgeschlossen und verloren somit ihre vermeintlich sichere finanzielle Lebensgrundlage. Körperliche Gewalt und öffentliche Demütigung wurden zu einer „Alltagserfahrung“ jüdischer Österreicherinnen und Österreicher. Die Zahl der Suizide stieg sprunghaft an. Vor allem die berüchtigten „Reibpartien“, bei denen sie gezwungen wurden, mit Bürsten oder bloßen Händen und aggressiver Lauge die Straßen zu putzen, brannten sich den Überlebenden ins Gedächtnis. Diese Aktionen fanden vor den Augen hämischer Zuschauer und häufig im unmittelbaren Umfeld des Wohnorts oder Geschäftes der Betroffenen statt. Mitunter waren die Initiatoren ebenfalls Anwohner und kannten somit die Gedemütigten, die sie teilweise auf der Straße abfingen und spontan zu den „Reibpartien“ zwangen.
Am 10. April 1938 wurde in der letzten Reichstagswahl zu einer Abstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs aufgerufen. Das Votum war eindeutig: mit überwältigender Mehrheit befürworteten 99% der deutschen und 99,7% der österreichischen Abstimmenden nachträglich den „Anschluss“.
Verweise
[1] Letzte Rundfunkansprache als Österreichischer Bundeskanzler von Kurt Schuschnigg am 11. März 1938; http://www.mediathek.at/atom/015C6FC2-2C9-0036F-00000D00-015B7F64 (zuletzt abgerufen am 12.2.2018).
[2] Tagebuch Paul Steiner, Paul Steiner Collection AR 25208, Box 1, Folder 7, http://www.lbi.org/digibaeck/results/?qtype=pid&term=476154 (zuletzt abgerufen am 12.2.2018).
Dr. Miriam BistrovicDr. Miriam Bistrovic ist Historikerin und Kunstwissenschaftlerin. Seit Ende 2013 leitet sie die Berliner Repräsentanz des Leo-Baeck-Institute New York|Berlin und koordiniert dessen Aktivitäten in Deutschland. Jüngstes Projekt ist der Online-Kalender und die zugehörige Wanderausstellung „1938Projekt – Posts from the Past“. |