Juni 1938: „Juni-Aktion“ und „Aktion Arbeitsscheu“
1938 spitzt sich die Situation der deutschsprachigen Jüdinnen und Juden zu. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland im März 1938 steigt die Gewalt und öffentliche Diskriminierung gegenüber Juden in Österreich stark an. Im Juni 1938 starten die Nazis die so genannte „Juni-Aktion“ und die „Aktion Arbeitsscheu“. Dr. Frank Mecklenburg, Forschungs- und Archivleiter des Leo Baeck Institute New York | Berlin, schildert, wie diese Maßnahmen zu einer Art Labor für eine neue Stufe der Brutalität und Gewalt der Nationalsozialisten wurden.
Im Juni 1938 startete von den Nationalsozialisten eine neue Welle der Gewalt sowohl gegen Juden als auch gegen Nicht-Juden. In der Jewish Telegraphic Agency (JTA) in New York war hierzu zu lesen:
„BERLIN (17. Juni). Nach Ausschreitungen und Massenverhaftungen durch die Polizei erwartete die verängstigte jüdische Bevölkerung Berlins heute neue Übergriffe. Im Zuge der restriktiven Maßnahmen wurden insbesondere jüdische Geschäftsinhaber schikaniert. Dutzende jüdischer Läden blieben geschlossen und jüdische Cafés waren leer, da die „Nicht-Arier“ der Hauptstadt versuchten, sich vor einer Wiederholung der Überfälle, Verhaftungen und Unruhen der vergangenen Nacht zu schützen. Die Berliner Judenheit beschrieb diese Vorfälle als die schlimmsten 24 Stunden seit Beginn der Nazi-Herrschaft.“
Wien als Testgelände einer anti-jüdischen Politik
Bereits seit dem „Anschluss“ Österreichs am 12. März waren die Wiener Juden mit dieser neuen Stufe extremer Maßnahmen konfrontiert worden, da die Nazis die Stadt als Testgelände für ihre anti-jüdische Politik nutzten. Wenige Tage später – noch im März 1938 – traf Adolf Eichmann in Wien ein. Mit der „Juni-Aktion“ konzentrierte sich die Aufmerksamkeit jedoch wieder auf die Juden in Deutschland. Die „Aktion Arbeitsscheu“, die bereits Anfang 1938 geplant und im April in Gang gesetzt worden war, um Personen zu verhaften, die von der Nazi-Regierung als „arbeitsscheu“ eingestuft wurden (und die fast jeden einschloss, der als sozial unerwünscht galt), erfuhr im Juni eine deutliche antisemitische Ausprägung, als in Berlin und anderen deutschen Städten etwa 2.300 Juden festgenommen wurden. Erich Seligmann, der nach seiner Entlassung als Direktor des Wissenschaftlichen Instituts des Hauptgesundheitsamts Leiter des Jüdischen Krankenhauses in Berlin wurde, zählte zu den vielen Zeugen dieser Ereignisse. In seinem Tagebucheintrag vom 15. Juni beschreibt er die damalige Situation und vermittelt einen Eindruck davon, wie die Juden diese neue und erschreckende Entwicklung erlebten:
„Tiefste Depression über der Berliner Judenheit. Razzien in Lokalen und auf Straßen, Verhaftungen zu Hunderten, zwangsweise Auswanderungen, in Wien erprobte Methoden nach Berlin verpflanzt; viel Schreckliches, das nicht nachzuprüfen ist.“¹
Mit jedem Monat, der verging, versuchten mehr Juden, aus Deutschland und Österreich zu entkommen, in der Hoffnung auf einen sicheren Zufluchtsort. Für jene, die blieben, wurden zuverlässige Informationsquellen immer rarer, und umso wichtiger waren unabhängige/internationale Nachrichtenagenturen wie die JTA. Anfang Juni berichtete sie:
„WIEN (3. Juni). Den zahlreichen jüdischen Frauen, die sich im Gefängnis Rossauer Lände und auf der Polizeihauptwache nach dem Schicksal inhaftierter Angehöriger erkundigten, wurde heute mitgeteilt, dass alle Personen, die in der vergangenen Woche in das Konzentrationslager Dachau deportiert worden sind, dort als Arbeitskräfte beim Ausbau des Lagers eingesetzt würden.«
Diese Zwangsarbeit war ein weiteres Mittel zur Unterdrückung der Juden, aber das Hauptziel bestand darin, sie aus Deutschland und den deutschsprachigen Gebieten zu vertreiben. Zu diesem Zweck wurden einzelne Personen sowie die jüdische Gemeinschaft insgesamt eingeschüchtert und drangsaliert. Um die Demütigung noch zu verstärken, führte man die Maßnahmen gegen die Juden gezielt an jüdischen Feiertagen durch, zum Beispiel zu Schawuot am 6. Juni, wenn an den Empfang der Tora auf dem Berg Sinai erinnert wird. Auch der „Anschluss“ am 12. März fiel auf einen jüdischen Feiertag, den Schabbat.
Massenverhaftungen und massenhafte Selbstmorde
Die Verhaftungen in den ersten Junitagen lassen sich nur schwer von dem Chaos trennen, das mit dem Anschluss im März begonnen hatte, als die Nazis erkannten, dass sie problemlos wesentlich radikalere und brutalere Übergriffe vornehmen konnten. Die Massenverhaftungen und anschließenden massenhaften Selbstmorde nach dem 12. März in Wien ließen nicht nach, wie den täglichen Berichten der JTA zu entnehmen ist. Während eine chronologisch orientierte Geschichtsschreibung versucht, sich auf bedeutende Daten wie dieses zu konzentrieren, ergibt sich bei Betrachtung des breiteren Zusammenhangs ein weitaus komplexeres und dynamischeres Bild. Statt auf ein ereignisorientiertes Narrativ weist die Situation der Juden in Deutschland und in der Folge auch in Österreich auf ein stärker verflochtenes Szenario von „Altreich“ und „Ostmark“ sowie auch darauf hin, dass Wien nach dem „Anschluss“ als ein Labor für eine neue Stufe der Brutalität und Gewalt diente, die später in allen von den Nationalsozialisten beherrschten Gebieten Anwendung fand.
Quellen
¹ Eintrag aus Erich Seligmanns Tagebuch Nr. 3, Erich Seligmann Collection AR 4104, Box 1, Folder 2.