Was sind Menschenrechte?
Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, stimmte die große Mehrheit der Vereinten Nationen für die Allgemeine Deklaration der Menschenrechte. Unser Autor, der Historiker Robert Kluth, erklärt, wie es zu der Deklaration kam und fragt sich, warum diese wertvolle Errungenschaft nur so wenigen Menschen in Deutschland bekannt ist.
Von den Menschenrechten hat beinahe die Hälfte der deutschen Bevölkerung kaum oder gar keine Ahnung. Bei einer aktuellen, repräsentativen Umfrage gaben 48 Prozent der Befragten an, „nur ein geringes oder gar kein Wissen zu den Menschenrechten“ zu haben. Gleichzeitig werden zu aktuellen Debatten immer wieder die Menschenrechte benannt.
Wieso aber sprechen wir über etwas, worüber mehr als die Hälfte der Deutschen nach eigenen Angaben eigentlich nichts weiß?
Der einzelne Mensch ist wichtiger als der Staat oder die Gemeinschaft
Vor genau 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen (UNO) die Deklaration der allgemeinen Menschenrechte.
Die Erklärung stellte in Artikel 1 fest:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Menschsein ist ein hinreichender Grund für Gleichbehandlung, egal, wo er oder sie herkommt, egal, welchen Geschlechts, egal, welches Alter er oder sie hat. Menschenrecht bedeutet, so der Journalist Martin Klingst, „dass jeder Mensch sein eigenes Leben führen und eigene Entscheidungen treffen darf. Kurzum: Er hat das Recht, ein eigener Mensch zu sein.“ Die dreißig Artikel der Deklaration schreiben darum unter anderem das Recht auf Leben, Freiheit, Asyl, freie Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Privatsphäre, Gesundheit, Ernährung, angemessenen Wohnraum aber auch auf Arbeit und Urlaub fest. Die große Mehrheit der UNO-Vollversammlung stimmte für die Deklaration mit 48 Ja-Stimmen und 8 Enthaltungen. Damit stimmten die Regierungen zu, ihrer eigenen Macht Grenzen zu setzen.
Bis zum Zweiten Weltkrieg war es völkerrechtlicher Konsens, dass Staaten sich nicht in die Belange von anderen einzumischen haben. Der einzelne Staat galt als souverän. Doch die Verbrechen Nazi-Deutschlands und des Zweiten Weltkriegs hatten deutlich gemacht, dass der Nationalstaat als Garant von Bürgerrechten versagt hatte. Die Deklaration von 1948 stellte darum eine radikale Zäsur im Völkerrecht dar. Zum ersten Mal wurde das Individuum als Träger von Rechten und Pflichten festgestellt. Die Menschenrechte schützen den einzelnen Menschen vor dem eigenen Staat.
Woher kommt das Menschenrecht, wenn kein Mensch es macht?
Historisch gesehen sind die Menschenrechte westlichen Ursprungs. Zwar finden sich ähnliche Prinzipien auch in allen Weltreligionen, aber die Menschenrechte selbst wurden erst Ende des 18. Jahrhunderts in der amerikanischen und französischen Revolution ausformuliert. Die Französische Revolution im Jahr 1789 mit der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte änderte alles – auch in Deutschland. Lange sträubte man sich gegen diese Rechte.
Radikal neu an der Idee der Menschenrechte waren zwei grundlegende Überlegungen. Erstens: der einzelne Mensch, das Individuum, geht der Gemeinschaft voraus. Die Gemeinschaft entsteht erst logisch nach dem einzelnen Individuum. Und zweitens: Es ist vernünftig, ein allgemeines Menschenrecht anzunehmen, da es ansonsten kein friedliches Zusammenleben geben kann.
Die entscheidenden philosophischen Gedanken stammen aus dem 17. Jahrhundert, aus der Zeit der Aufklärung. Kurz nach der englischen „Glorious Revolution“ erschien 1690 das Buch Über die Regierung des Philosophen John Locke.
Hierin denkt Locke über die Natur des Menschen nach: Was ist der Mensch eigentlich und was macht ihn aus? Den Menschen stellt er sich dabei im „Naturzustand“ vor, ohne Herrschaft, soziale Bindungen oder Staat. In diesem Zustand sind nach Locke alle Menschen frei und gleich. Diese ursprüngliche Freiheit und Gleichheit nennt Locke „Naturrecht“. Da im Naturzustand jedoch keine Regelverstöße geahndet werden können, ist es für Locke vernünftig, dass die Menschen den Naturzustand verlassen und sich „zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen“.
Die entstehende Gemeinschaft – der Staat – ist dafür da, die Naturrechte für jeden Einzelnen zu garantieren: In ihm werden Leben, Gesundheit, Freiheit und Besitz der Mitmenschen respektiert und geschützt. Kommt es zum Regelübertritt wird dieser nun von der höheren Gerichtsbarkeit geklärt und bestraft. Der Staat ist nur ein Vehikel, um die Naturrechte zu sichern. Die Naturrechte gehen jeder Staatlichkeit und auch jeder Kultur voraus – sie liegen, laut Locke, in der Natur des Menschen begründet.
Bis heute sind Lockes Gedanken für die Menschenrechte konstitutiv: Seine Philosophie des Naturrechts ist das Vorbild für die „Declaration of Rights“ der USA aus dem Jahr 1776. Jede Bewohnerin oder jeder Bewohner der entstehenden Vereinigten Staaten von Amerika sollte diese Idee verstehen. Darum wurde für die deutschsprachigen Einwandererinnen und Einwanderer die Unabhängigkeitserklärung auch in Deutsch gedruckt und verbreitet. Einer dieser Erstdrucke der deutschen Erklärung ist in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums zu sehen.
Ein – zwei – viele – Menschenrechte
Nach ihrer Deklaration 1948 wurden die Menschenrechte zur „politisch mächtigsten Idee der Gegenwart“, so der Staatsrechtler Josef Isensee. 1993, auf der UN-Weltmenschenrechtstagung, unterzeichneten 171 von 186 UN-Mitgliedern den Satz
„Alle Menschenrechte sind universal, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang“.
Mittlerweile sind die Menschenrechte umfangreich geworden. Die sogenannten Abwehrrechte gegenüber dem Staat – von denen Locke sprach -, gelten heute als Mindeststandard: Wenn ein Mensch seiner Freiheit beraubt wird, also ins Gefängnis kommt, muss dies begründet werden. Mit der Idee des Kommunismus entstanden die Menschenrechte der „zweiten Generation“. Sie schreiben kulturelle und soziale Teilhaberechte für die Bürgerinnen und Bürger fest. Heute gelten sie oft als Angelegenheit der Staaten gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern. Mit der Dekolonisierung und dem Versuch, die desolate Lage der Entwicklungsländer zu überwinden, entstand eine Debatte um Recht auf Entwicklung, Frieden und Selbstbestimmung. Sie gingen als Menschenrechte der „dritten Generation“ in den 1960er Jahren in die Bestimmungen mit ein.
Obwohl die Menschenrechte seit den 1980er Jahren zum „Völkergewohnheitsrecht“ (Riedel) geworden sind, werden sie in Frage gestellt. Stets lassen sich Gründe finden, warum es keine Gleichbehandlung von Menschen geben solle. So argumentiert der neu aufflammende Nationalismus, dass jenes Volk eine andere Natur habe als dieses: ein einheitliches Naturrecht für alle Menschen gäbe es nicht. Der Nationalismus rechtfertigt damit die ungleiche Behandlung von Menschen und stellt die Gemeinschaft vor die Rechte des einzelnen Individuums. Regionale Mehrheiten werden gegen universelle Rechte ausgespielt, so dass Menschenrechte plötzlich als utopische Spinnerei gelten. Deshalb scheint die derzeitige politische Weltlage keinen Platz für Menschenrechte zu haben.
Menschenrechte heißt Geschichte erzählen
Was die eigentliche „Natur des Menschen“ ist, bleibt umstritten. Die Geschichte hingegen lehrt uns, dass es triftig und klug ist, Menschen so zu behandeln, als seien sie alle gleich und frei. Diese Idee hat, jenseits aller Kultur, frei gemacht zur Diskussion und eine Vielfalt von Meinungen gefördert. Wer durch die Dauerausstellung streift, erkennt, dass Geschichte auch bedeutet, dass alles auch ganz anders sein könnte, als es jetzt ist. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat darum gefordert, nicht länger nach der Natur des Menschen zu forschen, um die Menschenrechte zu begründen. Vielmehr müsse man die Sympathien für diese Rechte fördern, indem man die richtigen Geschichten erzählt. Die deutsche Geschichte hält für solche Erzählungen genügend Stoff bereit.
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Robert KluthRobert Kluth ist Historiker und Ausstellungskurator und hat u. a. für deutsche und amerikanische Museen gearbeitet. Er hat Geschichte und Philosophie an einem Berliner Gymnasium unterrichtet. Erreichbar ist er via Twitter. |