„Er war noch so jung“
Besondere Vorkommnisse – Heute vor 30 Jahren | Teil 1
Zsuzsa Breier | 19. Februar 2019
Das Jahr 1989 entwickelt sich zu dem bedeutendsten Umbruchsjahr der Nachkriegszeit Europas. Als exklusiven Vorabdruck ihres Buches gewährt die Literaturwissenschaftlerin und Diplomatin Zsuzsa Breier in vier Beiträgen für den DHM-Blog einen Einblick in die rasanten Entwicklungen in Deutschland und Ungarn vor dreißig Jahren.
Am 1. und 2. Februar 1989 besucht eine Delegation des Deutschen Bundestages Ungarn, die Abgeordneten wollen sich über die Flüchtlingslage informieren. Mehr als 13 000 rumänische Staatsbürger (mehrheitlich ungarischer Muttersprache) … kamen im Jahr 1988 nach Ungarn, … die sich auf Menschenrechtsverletzungen berufen und eine Rückkehr in ihr Land verweigern.1 Die Delegation reist nach Debrecen, um dort ein Flüchtlingslager zu besichtigen.
Im Anschluss an die Reise sagt Delegationsleiter Otto Schily über die rumänischen Flüchtlinge:
Es ist erschütternd, dass diese Menschen ihre Muttersprache nicht sprechen und ihre Kultur nicht pflegen dürfen, ihre Kinder können in der Schule die Muttersprache ihrer Eltern nicht erlernen. Das geht, nach unserer Überzeugung, nicht konform mit den Prinzipien der europäischen Zivilisation und nicht mit den Prinzipien, die die vor kurzem unterzeichnete Wiener Schlussakte festlegen...2
Das Thema Menschenrechte beschäftigt in diesen ersten Februartagen nicht nur Otto Schily, auch Stasi-Chef Erich Mielke kommt das Wort über die Lippen, als er dem MfS-Kollegium das gerade vereinbarte KSZE Abschlussdokument erläutert:
Ungeachtet der Tatsache, daß es den westlichen Ländern … gelungen ist, im (KSZE) Schlußdokument ihre Vorstellungen zur Menschenrechtsproblematik weitgehend durchzusetzen, gilt jedoch … Die Legalisierung von Aktivitäten sogenannter Helsinki-Überwachungsgruppen würde unter den konkreten Lagebedingungen der DDR erhebliche innen- und außenpolitische Wirkungen nach sich ziehen. Unter diesem Deckmantel würden sich staatsfeindliche Gruppen und Kräfte in der DDR legal organisieren können und offen durch den Gegner und seine Einrichtungen unterstützt unter angeblicher Wahrung der Menschenrechte … gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR auftreten. … Entsprechend einer zentralen Entscheidung werden wir deshalb eine Legalisierung der sogenannten Helsinki-Überwachungsgruppen in der DDR nicht zulassen und unsere diesbezüglichen Rechtsvorschriften so gestalten und anwenden, daß jegliches Tätigwerden dieser Gruppen verhindert wird …3
Das kürzlich von 35 Staaten des West- und Ostblocks unterzeichnete Abkommen der Wiener KSZE-Konferenz wird vom Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gelobt, er sagt, Zwischen West und Ost entwickelt sich eine neue Qualität des Dialogs, drückt aber auch seine … aufrichtige Besorgnis aus, denn noch immer werden Menschenrechte verletzt oder missachtet. …4
Björn Engholm, Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, führt in diesen Tagen Gespräche in der DDR. Die Stasi ist zufrieden mit dem Besuch und protokolliert:
B. Engholm würdigte … die große Aufmerksamkeit, die seine gestrige Begegnung mit E. Honecker in den Medien der DDR, insbesondere auch im „Neuen Deutschland“, gefunden habe und bemerkte dazu, daß er froh wäre, wenn er eine solche Presse in seinem eigenen Bundesland Schleswig-Holstein hätte.5
Für Csilla von Boeselager ist der 4. Februar ein ganz besonderer Tag, ihr langjähriger Einsatz trägt endlich Früchte: es ist ihr gelungen, das erste nichtstaatliche Hilfswerk im Ostblock, den Ungarischen Malteser Caritasdienst (MMSZ) zu gründen. Die geborene Ungarin, sie flüchtete noch als Kind vor der Roten Armee, berichtet über die Gründung an einen Freund:
Zur Gründungsversammlung des Magyar Máltai Szeretetszolgálat (MMSZ) … in der Pfarrei Zugliget sind viel mehr Leute erschienen, als wir dachten: 31 Erwachsene insgesamt … Die Gründung … wurde ein nationales Ereignis. Sämtliche Zeitungen haben darüber berichtet. … Das Interview mit Pfarrer Kozma und mir fand in der Kirche statt!! Und das in einem Land, wo die Priester außerhalb des Pfarreigeländes nicht einmal als Priester gekleidet erscheinen dürfen.6
Die erste Februar-Ausgabe des Spiegel zeigt einen freundlich lächelnden Adolf Hitler, umringt von freundlich lächelnden Männern, Frauen und Kindern, links stehen dekorierte Offiziere, rechts eine Damenriege mit Kindern in Tracht, ein Junge überreicht dem Führer einen Blumenstrauß. Das Foto ist fast ein halbes Jahrhundert alt. Der Spiegel schreibt, der Verfassungsschutz fürchtet Ausschreitungen von Rechtsradikalen zum 100. Geburtstag des Führers:
Mit Aktionen im In- und Ausland wollen Neonazis den 100. Hitler-Geburstag am 20. April begehen. Verfassungsschützer rechnen mit gewalttätigen Ausschreitungen. … Anders als in früheren Jahren, als rechtsextremistische Stammtischrunden in den deutschen Kneipen-Hinterzimmern … auf den Führer anstießen, soll diesmal am 20. April ein aufwendiger Propagandafeldzug mit Flugschriften und einer Großkundgebung für europaweites Aufsehen sorgen. … Ziele von Anschlägen könnten Ausländerwohnungen, Behörden und die Einrichtungen der Alliierten sein.7
Die Wurzeln des Faschismus sind in der BRD nicht ausgerottet, titelt Neues Deutschland an diesem 4. Februar:
Eine wesentliche Ursache für die zunehmenden neonazistischen Umtriebe in der BRD liegt nach Meinung des Präsidenten der WN — Bund der Antifaschisten, Kaplan Dr. Joseph C. Rossaint, in ihrer nunmehr 40jährigen Geschichte selbst begründet. Sein Land habe nach 1945 zu keiner Zeit die eigentlichen Wurzeln des Faschismus ausgerottet.8
Noch im gleichen Jahr druckt Neues Deutschland den Satz in positiver Umkehrung, in Bezug auf den SED-Staat: In der DDR sind die Wurzeln des Faschismus für immer ausgerottet.9
In der DDR, in der es offiziell keine neonazistischen Umtriebe gab, wurden 1988 … etwa 6.000 Neonazis … erfasst, … davon … rund 1.000 … rückfällig dauergewaltbereit …. Monatlich wurden 1988 bis zu 500 Taten aus diesem Milieu registriert. Darunter auch Gewalttaten aus eindeutig ausländerfeindlichen Motiven.10
Der Bundesverfassungsschutz berichtet über 103 Gewalttaten mit rechtsextremistischem Bezug in der Bundesrepublik im Jahr 1989, dazu kommen ein Tötungsdelikt, 12 Brandanschläge, 52 Körperverletzungen und 38 Sachbeschädigungen, sowie 1483 Propagandadelikte ohne Gewaltanwendung.
Gemütlichkeit III heißt die Berliner Schrebergartenkolonie, durch deren Beete Chris Gueffroy und Christian Gaudian an diesem Sonntagabend, den 5. Februar kriechen, sie sind beide noch so jung, gerade erst 20, sie wollen zum Britzer Verbindungskanal. Kurz vor Mitternacht stehen sie vor der Hinterlandsmauer, die Sperranlagen zwischen Ost und Westberlin sind mehrfach gesichert, mit Sirenen, Signalleuchten, Splittermienen, Stolperdrähten, Beobachtungsbunkern und Türmen, Kfz-Sperrgraben und Spurensicherungen und sog. mobilen Sperrelementen, d.h. mit scharfgemachten Hunden, der Volksmund nennt die Sperrzone Todesstreifen, Gaudian und Gueffroy suchen dort aber nicht den Tod, sie suchen das freie Leben.
Die ersten Hürden sind genommen, sie haben auch den Grenzsignalzaun hinter sich und rennen durch den Kontrollstreifen, Alarm wurde ausgelöst, das Postenpaar Andreas K. und Peter S., beide 25, rufen aus 100 m Entfernung Halt! Stehenbleiben!, sie aber laufen weiter, kaum 5 m entfernt ist der letzte Zaun, als Peter S., Vater von zwei kleinen Kindern, seine Maschinenpistole lädt, er kniet nieder, zielt und feuert sechs Schüsse ab, er soll auf die Beine gezielt haben, wird er später sagen, Andreas K., auch er ist Vater, wird später sagen, den Hebel seiner Kalaschnikow soll er versehentlich auf Dauerfeuer gestellt haben, ein zweites Postenpaar taucht auf, Gaudian und Gueffroy versuchen mit dem mitgeführten Wurfanker den Metallgitterzaun zu überwinden, unter Dauerbeschuss, der Postenführer Mike Sch. zielt, drückt aber nicht ab, er ruft seinem Postenpaar Ingo H. zu, Schieß doch!
Ingo H. zielt über Kimme und Korn, seine ersten Schüsse durchbohren den rechten Fuß von Chris Gueffroy, Ingo H. feuert weiter, sein Geschoss durchschlägt Chris Gueffroys Körper, die Kugel dringt an der linken Brustwarze in den Körper ein und verlässt ihn am hinteren Rand der Achselhöhle, Gaudian wirft seinen Personalausweis über den Grenzzaun, Gueffroy fasst sich an den Bauch und sackt zusammen, Schwein! ruft der Postenführer ihm zu und nimmt ihn fest, Sau!, sagt er und hält seine Pistole auf Gueffroy, der unbeweglich am Boden liegt, sollte er sich rühren, wird er sofort abgeknallt, schreit Mike Sch. ihm zu, Chris Gueffroy rührt sich aber nicht, wenige Minuten nach dem Schuss verstirbt er, sein Herz ist zertrümmert.
Das besondere Vorkommnis wird von der Stasi als grenztaktische Handlung protokolliert:
Der versuchte Grenzdurchbruch wurde seitens der Grenztruppen der DDR unter Anwendung der Schußwaffen verhindert. …
Etwa Anfang Februar 1989 kamen sie (Gueffroy und Gaudian) auf der Grundlage ihrer ablehnenden Einstellung zu gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR zu der Auffassung, in Berlin (West) bessere Lebensumstände vorzufinden. Sie entschlossen sich daraufhin, die Staatsgrenze der DDR im vorgenannten Abschnitt mittels Hilfsmittel zu überwinden …11
Jeder der vier Grenzposten, insgesamt feuerten sie 22 Schüsse ab, bekommt 150 Mark Geldprämie, zum Zweck der Beruhigung, denn bedrückt und niedergeschlagen sollen sie gewesen sein, wird ihnen direkt nach der Erschießung von Chris Gueffroy in der Cafébar der Kompanie im Beisein von Offizieren Alkohol verabreicht.
Auch der ungarische Geheimdienst meldet am 7. Februar einen streng geheimen Vorfall an die Parteispitze:
… früh am morgen hat eine unbekannte Person in einer Bushaltestelle in Györ den stv. Oberstleutnant József K., er trug Uniform, aufs Gröbste beschimpft: „Hier kommt ein dreckiger Kommunist!“, „Für unsere desaströse Wirtschaftssituation tragen die Kommunisten die Verantwortung, erhängt werden sollen sie alle“. Daraufhin spuckte die unbekannte Person in die Richtung des Oberleutnants. Oberst K. ist so entschlossen aufgetreten, dass der Unbekannte zum Schluss weglief. Die 15 bis 20 bürgerlichen Personen, die sich während des Vorkommnisses in der Haltestelle aufhielten, blieben gleichgültig.12
Quellen
1 MNL OL 288-22/1989, 12, archivnet.hu
2 Somogyi Néplap, 89-02-01/27
3 BStU, MfS, ZAIG 5342, 30, 44
4 bpa, Bulletin 89, Nr.10,S106, 108
5 Nakath, Countdown, 156
6 LWL, Höl Stf -353
7 spiegel, 31.1.89
8 ND 4.2.89
9 ND 17.8.89
10 Wagner, bpb
11 BStU, MfS, ZAIG 15217, 99f
12 osa, NOIJ. 89/2/7
© Uwe Steinert |
Dr. phil. Zsuzsa Breier1963 in Budapest geboren, studierte an der Eötvös Loránd Universität Literatur- und Kulturwissenschaft, unterrichtete an ihrer Heimatuniversität Neuere Deutsche Literatur und an der Berliner Humboldt-Universität Kulturmanagement, wechselte 2004 in den diplomatischen Dienst, organisierte das „Kulturjahr der Zehn“, gründete die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ und publizierte die Anthologie „Freiheit, ach Freiheit…“. 2012 wurde sie von der Hessischen Landesregierung als Europastaatssekretärin berufen, 2015 leitete sie die Handelsblatt Global Edition, seit 2016 forscht sie zu dem Jahr 1989. |