Demokratie 2019
Eröffnungsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
24. April 2019
In unserem Blog veröffentlichen wir die Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die er zur Eröffnung der Ausstellung „Weimar: Vom Wesen und Wert der Demokratie“ und damit unseres Demokratie-Schwerpunktes am 3. April 2019 in Berlin im Zeughaushof des Deutschen Historischen Museums hielt. Die Ausstellung ist noch bis zum 22. September 2019 zu sehen.
Zur Jahreswende 1932/33, als in der Weimarer Republik antiparlamentarische Kräfte die Macht übernommen haben, blickt der Ökonom Moritz Julius Bonn ernüchtert auf die Gründung der ersten deutschen Demokratie zurück. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, so schreibt er, habe in Deutschland eben „eine Republik ohne Republikaner“, „eine Demokratie ohne Demokraten improvisiert werden müssen“.
Bonn, der Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, der liberale Verteidiger der Weimarer Reichsverfassung, war selbst das beste Beispiel dafür, dass das so nicht stimmte. Aber er stand damals unter dem Eindruck der Existenzkrise der Republik, und er konnte nicht ahnen, welche Karriere die Formel von der „Demokratie ohne Demokraten“ einmal machen würde.
Heute wissen wir, wie stark diese Wendung nach 1945 das Weimar-Bild in unserem Land beherrscht und mit dazu beigetragen hat, dass viele mutige und aufrechte Demokratinnen und Demokraten jener Jahre weitgehend in Vergessenheit gerieten. Viele Jahre lang hielt sich im kollektiven Gedächtnis die Vorstellung, der Weimarer Demokratie sei ihr Scheitern schon vorherbestimmt gewesen, die Republik habe eigentlich nie eine Chance gehabt gegen ihre Feinde von links und rechts.
Heute, hundert Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik, ist es höchste Zeit, dass wir ihre Geschichte nicht mehr nur von ihrem Ende her denken und erzählen. Denn sie war mehr als nur die Vorgeschichte des Nationalsozialismus, sie war keine Einbahnstraße in die Barbarei.
Der Ausgang des demokratischen Experiments, das mit der Revolution von 1918/19 begann, war offen.
Ich freue mich, dass das Gedenken in diesem Jubiläumsjahr von dieser neuen Perspektive auf die Weimarer Republik geprägt wird, hier in Berlin oder vor Kurzem in Weimar und an ganz vielen anderen Orten in unserem Land. Und ich freue mich ganz besonders, dass Sie nun hier im Deutschen Historischen Museum den Blick auf die Frauen und Männer lenken, die die erste deutsche Demokratie aufgebaut, gestaltet und verteidigt haben. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass wir diese Menschen aus dem langen Schatten des Scheiterns der Republik holen, und auch deshalb bin ich heute Abend gern zu Ihnen gekommen. Haben Sie herzlichen Dank für die Einladung!
„Vom Wesen und Wert der Demokratie“ – schon der Name der Ausstellung erinnert an einen prominenten Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit, an einen der wenigen, die von vornherein entschieden für die parlamentarische Demokratie eintraten. Hans Kelsen, der Antipode Carl Schmitts, veröffentlichte unter diesem Titel schon 1920 Kerngedanken einer modernen Demokratietheorie. Und wenn er schreibt, dass das Volk keine homogene Einheit, sondern ein „Bündel von Gruppen“ ist, dass Parteien „notwendig und unvermeidlich“ sind, dass das parlamentarische Verfahren auf Kompromisse und den friedlichen Ausgleich politischer Gegensätze zielt, dann richtet sich das in aller Nüchternheit und Vernunft gegen die autoritären Verführer von damals und heute.
Nein, die Weimarer Republik war keine Demokratie ohne Demokraten, das zeigt die Ausstellung, die Sie gleich sehen werden. Sie gibt, frei nach Walter Benjamin, der Demokratie eine Physiognomie, und sie erzählt vom Aufbruch in eine moderne Gesellschaft.
Hugo Preuß, der Architekt der Weimarer Verfassung, und Marie Juchacz, die erste Rednerin in einem deutschen Parlament; Anita Augspurg, die Vorkämpferin für Frauenrechte, und Heinrich Brauns, der Wegbereiter der Arbeitslosenversicherung; Helene Stöcker, die Pazifistin und Sexualreformerin, und Sylvia von Harden, die Journalistin und Lyrikerin der Berliner Bohème: Sie alle stehen stellvertretend für die progressiven Kräfte, die damals, am Anfang dieser Demokratie, freigesetzt wurden, in der Politik, aber auch in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur.
Vieles von dem, was sie damals erstritten, prägt heute unser Land, auch wenn wir uns das oft gar nicht mehr klarmachen, und viele ihrer Ideen bieten Anregungen bis heute. Parlamentarische Demokratie und Sozialstaat, Neues Bauen und Neue Schule, gleiche Rechte für Homosexuelle – diese Ausstellung rückt die Weimarer Republik ein ganzes Stück näher an unsere Gegenwart heran.
Vor allem zeigt sie, mit wie viel Leidenschaft und Kreativität sich diejenigen engagierten, die damals die Demokratie erprobten – und das trotz der schweren Bürden, die die Republik vom ersten Tag an zu schultern hatte. Der verlorene Krieg und der Versailler Vertrag, Wirtschaftskrise und Inflation, eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, antiliberale Traditionen und die mörderische Gewalt, mit der reaktionäre Kräfte das Land überzogen – all das belastete die erste deutsche Demokratie. Und umso beeindruckender ist die Leistung derer, die sie stützten und ausbauten!
Respekt und Dankbarkeit – das ist es, was wir den Demokraten, Reformern und Vordenkern der Weimarer Zeit schulden. Aber nicht nur deshalb ist es wichtig, dass wir uns heute an sie erinnern. Ich glaube, gerade in diesen Zeiten, in denen Zweifel an Wesen und Wert der liberalen Demokratie wieder zunehmen, in denen die Verächter der Freiheit auch bei uns in Europa wieder lauter und selbstbewusster werden, gerade in diesen Zeiten brauchen wir die Erinnerung an vergessene Heldinnen und Helden unserer Demokratiegeschichte, um die Demokratie zu beleben und zu stärken.
Denn wer sich an unseren langen und verschlungenen Weg zur Demokratie in Deutschland erinnert, an die mutigen Frauen und Männer, die für Freiheit und Selbstbestimmung kämpften, aber auch an Irrwege und Abgründe, dem wird bewusst:
Die Demokratie ist uns Deutschen nicht in die Wiege gelegt, sie ist eine historische Errungenschaft, die auch wieder verloren gehen kann.
Gerade für junge Menschen in unserem Land ist das heute nicht mehr selbstverständlich. Eine ganze Generation kennt Deutschland nur als ein vereintes, demokratisches Land in einem friedlichen Europa. Das ist ein großes Glück, aber ein bisschen Gefahr liegt auch darin. Denn so wenig der Demokratie vor hundert Jahren ihr Scheitern vorherbestimmt war, so wenig ist heute ihr Gelingen garantiert. Wir müssen immer wieder aufs Neue für sie arbeiten und, wo es notwendig ist, auch streiten.
Der Blick zurück zeigt uns, wie wichtig es ist, dass Menschen Verantwortung übernehmen, dass sie sich den Mühen demokratischer Politik aussetzen und bereit sind, Kompromisse einzugehen und auch die Konsequenzen dafür zu tragen. Und sie zeigt uns, dass eine offene Gesellschaft mit sich im Gespräch bleiben muss, dass sie auf Empathie, aber auch auf Solidarität angewiesen ist.
Demokratisches Engagement entspringt nie nur ganz einfach kühlem Verstand. Wer sich aus ganzem Herzen für unsere Demokratie engagieren will, der braucht Traditionslinien, Vorbilder, Inspiration. Es ist gut, dass wir heute die Frauen und Männer des Weimarer Aufbruchs wiederentdecken. Aber unsere Demokratiegeschichte hat viele Facetten, die noch mehr Aufmerksamkeit verdienen als bisher – von den deutschen Jakobinern über die Revolutionäre des Jahres 1848 bis hin zu den Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in der damaligen DDR. Alle diese Epochen können uns zeigen, was Einzelne zu leisten vermögen, vor allen Dingen, was wir gemeinsam als Demokraten bewegen können. Ja, ich glaube, wir können aus unserer Demokratiegeschichte Kraft und Zuversicht schöpfen – und beides brauchen wir, damit diese Demokratie nicht nur eine Geschichte, sondern vor allem eine Zukunft hat!
Ich freue mich, dass Sie hier im Deutschen Historischen Museum mit der Ausstellung den Bogen in die Gegenwart schlagen und vor allem junge Menschen in den kommenden Monaten dazu einladen, in Labors und Salons über die Demokratie der Zukunft nachzudenken. Eben bei meinem Rundgang durch die Ausstellung haben mich Schülerinnen und Schüler begleitet, und ich habe in den Gesprächen Gutes gehört über die Präsentation und das begleitende Demokratie-Labor.
Es ist wichtig, dass Gedenken und Geschichte nicht in Ritualen erstarren. Gerade Demokratiegeschichte sollte in Museen nicht als ein getrocknetes Präparat in der Vitrine präsentiert werden, sondern immer auch zu eigenem Engagement anspornen. Demokratie ist nicht, sondern sie wird ständig. Und als demokratische Bürger sind wir kein Publikum, das der Geschichte und dem Status quo nur staunend zuschaut, sondern wir haben es selbst in der Hand, unsere Geschichte zu schreiben und ihren Verlauf mit zu prägen.
Diese Ausstellung trägt dazu bei, dass Erinnerung lebendig bleibt und dass gerade junge Menschen erfahren, wie stark unsere Freiheit bis heute von denen geprägt ist, die vor hundert Jahren mit Mut und Herz für die Weimarer Demokratie gestritten und gekämpft haben.
Ich wünsche mir, dass diese Ausstellung viel vom „Wesen und Wert der Demokratie“ vermittelt.
Dass wir verstehen, dass Demokratie nichts Gegebenes und nicht auf ewig garantiert ist.
Dass sie wird und lebt vom Engagement ihrer Bürger. Dass es Bürger mit unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Interessen sind, die Gesellschaft ausmachen.
Dass die Kontroverse der Demokratie nicht wesensfremd ist, die Bereitschaft zum Kompromiss aber ihre Voraussetzung.
Dass der Kampf gegen das allgegenwärtige Establishment noch keine Politik ist – eher naiver Kinderglaube, dass das Leben ohne oder jenseits des politischen Wettbewerbs notwendig ein besseres Leben ist.
Das ist viel an Erwartungen an eine Ausstellung, und die meisten dieser Erwartungen sind nicht neu. Aber mein Eindruck ist: Manches müssen wir wieder neu lernen!
Vielen Dank!