Systemwechsel? Nein danke!

Andreas Ziepa | 28. Mai 2019

Das Leben und die Freiheit können Sie uns nehmen – die Ehre nicht.

Als der SPD-Fraktionsvorsitzende Otto Wels diesen Satz in seiner Rede vor dem Reichstag am 23. März 1933 aussprach, war der von den Nationalsozialisten angestrebte Systemwechsel bereits in vollem Gange. Wels wusste, dass er und die anderen SPD-Abgeordneten die Verabschiedung des Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich nicht mehr verhindern konnten. Adolf Hitler bekam an diesem Tag „sein“ Ermächtigungsgesetz. Fortan konnte die Reichsregierung selbst Gesetze beschließen und musste sich nicht mehr an das in der Reichsverfassung vorgesehene Verfahren des Parlamentsbeschlusses halten. Damit war das Herzstück der Demokratie, das Parlament, per Gesetz entmachtet worden. Außer der SPD-Fraktion stimmten alle anwesenden Abgeordneten dafür; die Mitglieder der KPD-Fraktion waren bereits verhaftet oder untergetaucht und nahmen deshalb nicht an der Abstimmung teil. Hitler wollte, dass die Abschaffung der Demokratie so „legal“ wie möglich stattfand, und mit dem Ermächtigungsgesetz sah es auf den ersten Blick auch genauso aus.

Ermächtigungsgesetz. Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich. Vom 24. März 1933 © DHM

Dass dies ganz und gar nicht der Fall war, war nicht nur an den Zielen der NSDAP abzulesen, sondern auch am Vorgehen gegen politische Gegner seit dem Beginn der Kanzlerschaft Hitlers am 30. Januar 1933. Nach dem Reichstagsbrand Ende Februar wurde mitten im Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 5. März der Ausnahmezustand ausgerufen. Grundrechte wurden massiv eingeschränkt, politische Gegner verhaftet und der parteieigenen Schlägertruppe SA polizeiliche Befugnisse übertragen. Kurz, die Errichtung der Diktatur war bereits in vollem Gange, als Wels wenigstens die Ehre eines Teils der Demokrat*innen zu retten versuchte. Die Freiheit war bereits verloren und viele Gegner*innen Hitlers verloren später auch ihr Leben, die Weimarer Republik war endgültig gescheitert.

Die Mehrheit der Deutschen wollte den Systemwechsel, sie waren unzufrieden mit den demokratisch legitimierten Regierungen. Die Mehrheit traute den „Systemparteien“ nicht mehr zu, die Probleme des Landes zu lösen. Der zerrissenen Nachkriegsgesellschaft war während der Weltwirtschaftskrise der letzte Kitt abhanden gekommen, der nötig war und heute weiterhin nötig ist, damit Demokratien bestehen können. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung, von einem Teil der Gesellschaft von Anfang an abgelehnt, reichte als gemeinsamer Nenner nicht mehr aus, um genug Vertrauen in die politisch Verantwortlichen zu generieren. In dieser Situation wählten immer mehr Menschen eine Partei, die die Errungenschaften der Weimarer Republik wieder abschaffen wollte. Frauenrechte, Diversität, Pluralismus und das politische Ringen um Kompromisse waren für viele nichts, wofür es sich bei den Wahlen zu stimmen lohnte. Stattdessen glaubten viele den Parolen der Nationalsozialisten, die Deutschland wieder groß machen wollten, die eine völkisch-homogene Gesellschaft erschaffen wollten und die Ruhe und Ordnung versprachen. „Ruhe und Ordnung“ wurden dann durch die Verhaftung politischer Gegner und die Zerschlagung der demokratischen Organisationen hergestellt, eine gespenstische Ruhe und Ordnung. Der Weg zu Deutschlands neuer Größe führte direkt in den II. Weltkrieg, an dessen Ende Millionen Tote, der Völkermord an den europäischen Juden und die Zerstörung großer Teile Europas, Deutschland inbegriffen, standen. Die Befreiung vom Nationalsozialismus haben wir den Alliierten zu verdanken und nicht einer eigenen Leistung.

Deshalb:

Sachlich politischer Streit? Ja! Gern auch mal polemisch auf YouTube.

Schimpfen über die da oben? Ja, klar!

Regierungen abwählen? Ja!

Ein Systemwechsel? NEIN, NEIN und nochmals NEIN!

Damit Freiheit und Leben nicht wieder in Gefahr sind. Sich dafür einzusetzen, ist auch eine Frage der Ehre.

Dieser Beitrag wurde von Andreas Ziepa, Referent der Bildung und Vermittlung des Deutschen Historischen Museums im Rahmen der Blogparade „Was bedeutet mir die Demokratie? #DHMDemokratie“ verfasst.