„Nicht das Wunschdenken wird befriedigt, sondern das Befürchtungsdenken geweckt.“
Besondere Vorkommnisse – Heute vor 30 Jahren |
Teil 4
Zsuzsa Breier | 6. November 2019
Das Jahr 1989 entwickelt sich zu dem bedeutendsten Umbruchsjahr der Nachkriegszeit Europas. Als exklusiven Vorabdruck ihres Buches gewährt die Literaturwissenschaftlerin und Diplomatin Zsuzsa Breier in vier Beiträgen für den DHM-Blog einen Einblick in die rasanten Entwicklungen in Deutschland und Ungarn vor dreißig Jahren.
Ekelhafter Tag, notiert sich Walter Kempowski am 1. April 1989 in seiner hermetischen Eingeschlossenheit im norddeutschen Nartum (in den Augen seiner süddeutschen Schwiegermutter im norddeutschen Kaff). Aber wenigstens hat mich niemand in den April geschickt. An Merkwürdigkeiten fehlt es aber nicht an diesem Tag:
Hildegard kommt weinend mit zwei Singvögeln auf der Kehrichtschaufel. Eingedenk der sechs Millionen Singvögel, die pro Jahr im Süden gefangen werden, nimmt sich ihr Kummer seltsam aus…1
Kempowski, ein deutscher Chronist, hat sich vorgenommen, ein kollektives Tagebuch des Zweiten Weltkrieges zu schreiben, Echolot soll das Buch heißen, der Autor sammelt und sammelt, schon seit 1980, aber je umfangreicher sein Archiv umpublizierter Autobiographien wird, umso mehr Zweifel überkommen seinen Verleger Albrecht Knaus bezüglich der Beherrschbarkeit der Materie, Kempowski aber sagt nur darauf: Wind ist nur am Kornfeld darzustellen, nicht am einzelnen Halm.
Seine Standhaftigkeit rührt noch aus den Jahren in Bautzen, mit dem merkwürdigen Satz Bautzen war ein Segen für mich könnte er vielleicht diese Standhaftigkeit gemeint haben. Acht Jahre saß der damals 19jährige in Bautzen ein, verhaftet im Jahr 1948 bei einem Besuch seiner Mutter in Rostock, Kempowski lebte damals in Hamburg, ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn zu 25 Jahren Zuchthaus, wegen Spionage, antisowjetischer Hetze, illegalen Grenzübertritts und Gruppenbildung. Im berüchtigten Speziallager Nr.4 starben bis 1956, als Kempowski entlassen wurde, um die 3.000 Häftlinge – vielleicht meinte Kempowski das, wenn er sagte, Bautzen war ein Segen für mich, denn er überlebte und durfte sogar ausreisen, mit gerade mal 45 Kilo, trotzdem wird er sagen, der Hunger, die Kälte, die Einzelhaft und der Schlafentzug mochten an dem Körper zehren, schlimmer war die seelische Not, wohl deshalb schrieb er als erstes Wort nach der Haft in Großbuchstaben: ICH BIN FREI – etwas Größeres war nicht zu denken.
33 Jahre später, am 1. März 1989 schaut er sich im Westfernsehen eine Sendung über die DDR an, die er noch merkwürdiger findet, als Hildegard mit ihren Singvögeln:
Unglaubliche Sendung über ein mecklenburgisches Dorf. Dass die Leute sehr zufrieden sind mit ihrer LPG-Existenz. Habe schnellstens abgeschaltet. Nicht das Wunschdenken wird befriedigt, sondern das Befürchtungsdenken geweckt.2
Das Fürchten lernt gerade eine Familie nahe Boltenhagen, 200 km nordöstlich von Nartum, ein Fernglas, ein Kompass, ein Kanister und die mitgeführten Dokumente werden ihnen zum Verhängnis. Es sollte nach einem Familienausflug aussehen, die Stasi aber war auf dem Hut:
Vorbeugende Verhinderung des ungesetzlichen Verlassen der DDR mittels Schlauchboot über die Ostsee durch ein Ehepaar, unter Mitnahme ihrer 3 Kinder (5, 6 und 11 Jahre). …
Die Täter führten im Pkw „Wartburg“ ein Schlauchboot mit Außenbordmotor, 35 Liter Vergaserkraftstoff in Kanistern, einen Kompass, ein Fernglas sowie Qualifizierungsunterlagen u.a. persönliche Dokumente mit. Die Untersuchungen werden fortgeführt.3
Im Zug Berlin-Budapest wird einem anderen fluchtwilligen DDR-Bürger gerade ein fehlendes Dokument zum Verhängnis, und ein Hirschfänger, ein Jagdmesser, mit dem angeschossenes Wild getötet wird:
Am 31. März 1989, 11.15 Uhr erfolgte durch Passkontrollkräfte der DDR an der Grenzübergangsstelle Bad Schandau im internationalen Reisezug (Berlin-Budapest) die Festnahme eines Obermatrosen der Volksmarine (18, Torpedogast XX, Küstenschutzschiffs-Abteilung XX …), da er nicht im Besitz der erforderlichen Dokumente für einen Auslandsurlaub war.
Der Täter beabsichtigte, in die CSSR zu reisen und von dort aus nach der BRD fahnenflüchtig zu werden.
In einem Seesack führte er eine schwarze Arbeitskombination, Lederhandschuhe, einen Hirschfänger und einen Kompass mit. …
Es wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen.4
An dem Abend, als die LPG-DDR-Zufriedenheitsmeldung im Westfernsehen auf Sendung geht, versuchen drei unzufriedene DDR-Bürger einen gewaltsamen Grenzdurchbruch bei Drewitz:
Am 31. März 1989, 23.53 Uhr versuchten drei Personen … mit einem Pkw vom Typ „Saporoshez“ die Grenzübergangsstelle Drewitz gewaltsam zu durchbrechen, um nach Westberlin zu gelangen.
Sie fuhren zu diesem Zweck mit dem PkW mit überhöhter Geschwindigkeit am Dienstposten/Vorkontrolle vorbei in das Territorium der Grenzübergangsstelle ein.
Im Ergebnis der sofortigen Auslösung von Alarm mit Schließung aller Sperr- und Sicherungseinrichtungen wurde der PkW ca. 250 m nach dem Passieren des angeführten Dienstpostens … durch eine zwischenzeitlich geschlossene Seilsperre aufgehalten und es erfolgte die Festnahme der unverletzten Täter. …
Westliche Medien berichteten über das Vorkommnis.5
Westliche Medien berichten über Ereignisse, die vom Westen aus einsehbar sind. Die nicht-einsehbaren Vorkommnisse bleiben streng geheim, einsehbar nur für das MfS und die SED-Führungsspitze, die aber nicht daran denkt, sich von ihrem Kurs abbringen zu lassen.
Im Zeitraum vom 27. März bis 2. April erfolgte die Festnahme von insgesamt
78 Bürgern der DDR (Vorwoche – 52) …, davon
77 Festnahmen wegen vorbereiteter bzw. versuchter ungesetzlicher Grenzübertritte (52), darunter
34 Bürger (10), die beabsichtigten bzw. versuchten, die Straftaten unter Missbrauch der Territorien anderer sozialistischer Staaten zu begehen.6
Die ungarische Grenzübergangsstelle nach Österreich bei Hegyeshalom ist an diesem ersten April-Wochenende in Alarmbereitschaft. Der 4. April kommt, der Tag der Befreiung Ungarns durch die Rote Armee – so der offizielle Begriff, denn die Ungarn sprechen von Besatzung, und seitdem der bekannteste Widerstand gegen diese sowjetkommunistische Besatzung, der 1956er Herbstaufstand, sogar von der Partei als Volksaufstand anerkannt wurde, per ZK-Beschluss am 11. Februar 1989, kann die offizielle Befreiungs-Rhetorik auch für den 4. April eigentlich gar nicht mehr gelten. Darum schert sich jetzt aber keiner, der 4. April wird gefeiert wie gehabt, mit offiziellen Kranzniederlegungen und staatlichen Auszeichnungen, mit Inbrunst wie der 15. März oder der 23. Oktober ist er ja sowieso niemals begangen worden. Der arbeitsfreie Tag kann aber gerade in diesem Jahr bestens genutzt werden, weil er auf einen Dienstag fällt und der Montag als Brückentag dazukommt. Ein beachtlicher Teil des arbeitenden Volkes setzt sich also ins Auto, packt möglichst auch Oma und Opa dazu, um mehr Forint in harte Währung umtauschen zu können, pro Kopf durfte schließlich nur 60 Dollar umgetauscht werden (1988), der Rest, privat gewechselte DM von bundesrepublikanischen Balaton-Touristen, kommt in Omas Socken.
Der Weltpass muss auch mit, seit dem 1. Januar 1988 kann ihn jeder Ungar haben – außer einigen Tausenden feindlichen oder gefährlichen Elementen, so hat der Oppositionelle Ferenc Köszeg auch keinen Pass. Es sind aber inzwischen Millionen, die den Pass haben, schon Mitte 1988 waren es eine halbe Million Ungarn und an diesen beiden wunderbaren arbeitsfreien Frühlingstagen will der Weltpass in Österreich zum Einsatz kommen, der Himmel ist zwar bedeckt und ausgerechnet im Westen des Landes regnet es auch, das hält aber keinen ab, der Ansturm auf die westliche Grenzübergangsstelle ist kaum noch zu beherrschen, eine halbe Million Ungarn stehen vor der Grenze im Stau, nicht um etwa den Stephansdom zu sehen oder nach Mariazell zu pilgern, dafür sind die Sonntage gut, jetzt geht es zum Einkauf, der letzte sozialistische Befreiungstag (ein Jahr später gibt es ihn nicht mehr) wird zu einem zweitägigen Videogeräte- und Kühlbox-Festival:
Nach Auskunft des Grenzschutzes ist die Mehrheit der Touristen, die in Österreich einkauften, in den frühen Morgenstunden in Ungarn wieder eingetroffen. Mehr als 200.000 Menschen traten über die Grenze hin und zurück. …
Auf österreichischer Seite protestierten gestern Frauen, sie forderten die Behörden auf, Maßnahmen zu treffen für die Sicherheit ihrer Kinder. Denn wegen des dichten Verkehrs konnte man die Straßen kaum noch überqueren.7
Während der Westmarken-Einkaufstourismus zwischen Nickelsdorf und Wien Österreich in nur einem Jahr Einnahmen im Wert von 50 Milliarden Ft bringt und Ungarns Devisenvorräte entsprechend schmelzen, der Fluchttod des von Grenzposten erschossenen Chris Gueffroy liegt keine zwei Monate zurück, nicht ein Monat ist es her, dass die Heißluftballon-Flucht des Winfried Freudenberg tödlich endete, tritt die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im Ostblock immer mehr zu Tage, trotz strikter Geheimhaltung, trotz erratischer Zufriedenheitsberichte des Westfernsehens.
Im Zeitraum vom 3. April bis 9. April gibt es 66 Festnahmen wegen Straftaten mit der Vorbereitung bzw. dem Versuch des ungesetzlichen Verlassen der DDR, Ende April schon 93, Ende März zählte das MfS 147 vollendetes ungesetzliches Verlassen der DDR, in der letzten Aprilwoche sind es schon 192.8
Noch gelingt es der Stasi, die anhaltenden Botschaftsbesetzungen in Prag, Warschau und Budapest möglichst geräuschlos zu lösen, die Straftaten unter Missbrauch der Territorien anderer sozialistischer Staaten werden aber immer weniger beherrschbar:
In der Woche vom 3.4. bis 7.4.1989 versuchten 30 (Vorwoche 33) DDR-Bürger durch Verbleiben in der Ständigen Vertretung (12), der BRD-Botschaft in Prag (15) und Budapest (3) ihre ständige Ausreise die BRD/WB zu erzwingen. Damit erhöhte sich die Anzahl der Erpresser seit dem 2.1.1989 auf insgesamt 794 Personen. …
Die Mehrheit verließ die diplomatischen Vertretungen der BRD, nachdem ihnen eine „positive Lösung“ im Rahmen der Bearbeitung der gestellten Anträge auf ständige Ausreise … in Aussicht gestellt wurde.9
Budapest ist gerade mit ganz anderen, nicht weniger düsteren Angelegenheiten beschäftigt. Seit Monaten versucht das Innenministerium das Versprechen der Regierung einzulösen und die Leichname der 1958 hingerichteten 56er-Aufständischen an die Angehörigen herauszugeben. Es gibt aber ein Problem: offenbar kennt niemand mehr die genaue Stelle der damals anonym verscharrten Körper. Auf das Drängen der Angehörigen, der Kommission für Historische Gerechtigkeit, und unter dem Eindruck der Demonstration am 30. Jahrestag der Hinrichtungen – am 16. Juni 1988 löste die Polizei die Demonstration von 400 Menschen mit Gewalt auf, 15 wurden festgenommen – gab Parteichef Grósz noch im Sommer 1988 das Versprechen, die Leichname bestatten zu dürfen, dafür mussten sie aber zuerst gefunden werden.
Der erste Versuch scheiterte, der streng geheim beauftragte Geheimdienstmitarbeiter József Pajcsics meldete nach aufwendigem Akten- und Kartenstudium und mehrfachen Versuchen, im verwilderten Gebüsch der Parzelle 301 irgendwelche Spuren oder Hinweise für die möglichen Grabstellen zu finden:
Die Gräber wurden nicht gefunden, können auch nicht gefunden werden. Aufgabe nicht durchführbar.10
Am Ende ist es ein konspiratives Geheimdossier mit dem sprechenden Titel Wespennest im Tresor des Innenministeriums, das Auskunft gibt, über die grauenvollen Details der Hinrichtungen und was anschließend mit den Leichen passierte, wie sie im Gefängnishof bei Nacht unter den Boden gebracht wurden, mit Schutt, ausrangierten Möbelstücken und Müll bedeckt, wie zwei Jahre später ein konspiratives Umbetten in die Parzelle 301 erfolgte, wieder bei Nacht, wie viele Schritte man vom Friedhofszaun gehen muss, um an die Stelle zu kommen, wo die Gräber versenkt worden sind. Die Ausgrabungen können beginnen.
Am Mittwoch den 5. April, als Ergebnis einer fünftägigen Forschungsarbeit im Friedhof, wurden die Gräber gefunden. Die vermuteten leiblichen Überreste von allen Märtyrern konnten gefunden werden.11
Neben den Totengräbern stehen die Familien am Grab, Witwen, Kinder und Enkelkinder, neben einem Archäologen, der als Experte für die ungarischen Königsgräber gilt, Forensikern, Anthropologen, Innenstaatssekretär Borics und Oberst Pajcsics, aber keine Presse, keine Öffentlichkeit. Nur das Innenministerium hat eine Kamera und im Auftrag der Familien die Regisseurin Judit Ember. Ihre Linsen erfassen das Unfassbare: unter der Erde liegen Leichname mit zusammengedrahteten Händen und Füßen, zum Teil übereinandergeworfen, in Teerpappe gewickelt, die Schädel von Baumwurzeln durchdrungen, die Knochen mit Schuhfetzen zusammengewachsen, auch in Ihrem Tode wiederholt geschundene, geschändete Körper, mit ihrem Gesicht nicht zum Himmel, sondern zur Erde gelegt – für den Schmerz, obwohl so nahe an der Erfüllung der jahrzehntelange Hoffnung, sich von den Leichnamen verabschieden zu können, sie bestatten zu dürfen, gibt es keine Worte.
Quellen
1 Kempowski, Alkor:2001,151
2 Ebd., 154
3 BStU, MfS, ZAIG 4593, 11f.
4 Ebd., 9
5 Ebd., 11
6 Ebd., 10
7 osa, hung.mon. 4.4./89, 189, 190
8 Ebd., 40, 44, 96
9 MfS ZKG 19261, 16
10 Pajcsics, A 301-es parcella titkai
11 http://tausz.tripod.com/sajto.htm
© Uwe Steinert |
Dr. phil. Zsuzsa Breier1963 in Budapest geboren, studierte an der Eötvös Loránd Universität Literatur- und Kulturwissenschaft, unterrichtete an ihrer Heimatuniversität Neuere Deutsche Literatur und an der Berliner Humboldt-Universität Kulturmanagement, wechselte 2004 in den diplomatischen Dienst, organisierte das „Kulturjahr der Zehn“, gründete die „Gesellschaft zur Förderung der Kultur im erweiterten Europa“ und publizierte die Anthologie „Freiheit, ach Freiheit…“. 2012 wurde sie von der Hessischen Landesregierung als Europastaatssekretärin berufen, 2015 leitete sie die Handelsblatt Global Edition, seit 2016 forscht sie zu dem Jahr 1989. |