Plötzlich wieder aktuell? Dr. Schnabel im DHM
Aktuell dreht sich alles um Eindämmungsmaßnahmen, die eine Ausbreitung des sogenannten Coronavirus verlangsamen. Hygienevorschriften, Kontaktbeschränkungen, sogenanntes social distancing und insbesondere Schutzmasken sind im Gespräch. Im Laufe der Geschichte sind dies wiederkehrende Maßnahmen und Utensilien zur Eindämmung von Seuchen und Krankheiten, weshalb das Deutsche Historische Museum eine Reihe von Masken besitzt. Doch ein ganz besonderes Exemplar hat zuletzt in der #curatorbattle vom Yorkshire Museum auf Twitter („Museen, zeigt her eure gruseligsten Objekte“) für Aufsehen gesorgt: die sogenannte Pestmaske aus unserer Dauerausstellung. Wurde sie allerdings tatsächlich als „Schnabeliger Schutz gegen die Pest“ verwendet, wie wir in unserer „Wozu das denn?“-Reihe 2017 berichteten? Warum die Provenienz und insbesondere die Nutzung als Schutzmaske fragwürdig sind, schreibt Sabine Witt, Sammlungsleiterin Alltagskultur. Zusammen mit Stefan Bresky, Leiter Bildung und Vermittlung, hat sie jüngst einen Beitrag zu diesem Objekt in der zweiten Ausgabe unseres DHM-Magazins Historische Urteilskraft veröffentlicht. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir den Text leicht gekürzt und exklusiv im DHM-Blog!
Eine vogelkopfartige Haube mit langem Schnabel: Fasziniert zeigt sich das Museumspublikum von einem Exponat im Deutschen Historischen Museum in Berlin, bekannt als Pestmaske. Erworben wurde es 2006 im Kunsthandel, seine Herkunft (Deutschland oder Österreich?) und Datierung (zwischen der Mitte des 17. und Mitte des 18. Jahrhunderts?) lassen sich nur vage bestimmen.
Selten ist es allemal, nur ein weiteres Exemplar einer solchen Haube ist bekannt und befindet sich im Deutschen Medizinhistorischen Museum in Ingolstadt. Wie konnte die Haube dennoch zu dem Motiv für die Pest werden, die in Europa erstmals 1348 und später erneut regional auftrat? Und worauf beruht diese Identifikation als Pestmaske? Auf historisches Wissen über die Pest? Oder wirken Bildvorstellungen des venezianischen Karnevals und der Commedia dell’arte nach? Möglicherweise liegt es auch einfach daran, dass ähnliche Hauben und Masken aus der weiten Welt der Fantasy-Rollenspiele und -Filme für das (jüngere) Museumspublikum ein vertrauter Anblick geworden sind. Und dass sich das historisierende Gruselkabinett „Dungeon“ in Hamburg, London, Amsterdam und Berlin als Touristenattraktion etabliert hat.
Das große Interesse an dem Exponat richtet sich vornehmlich auf seinen imaginierten Träger, den Pestarzt, der als konkreter Akteur Geschichte anschaulich werden lässt. Ebenso provoziert die Haube spontane Publikumsfragen nach ihrer Funktion, Materialität und Echtheit. Also mal genau hingeschaut: Die Haube besteht aus gelbbraunem Samtgewebe mit gewachstem Leinenfutter und zwei „Augen“ aus dem Kristall Selenit, genannt Marienglas.1 Rings um diese brillenartig anmutenden Gläser ist der Stoff mit Leder eingefasst. Am markantesten aber ist die schnabelförmige lange Nase aus festem Leder. In die Unterseite des Schnabels sind einige Löcher gestanzt, im Innern befindet sich ein Gitter aus Lederstreifen. Das Objekt zeigt eindeutige Gebrauchsspuren, das Leder und die Gewebe sind berieben, verhärtet, fleckig und weisen Verfärbungen auf – möglicherweise entstanden durch Kräuter- oder Essigessenzen im Innern des Schnabels, die den vermeintlichen Pesthauch abhalten sollten.2 Die Oberkopfpartie der Haube ist hingegen besser erhalten, möglicherweise, weil ihr Besitzer darüber einen breitkrempigen Hut trug, der Schmutz und Feuchtigkeit von der Haube abhielt. Die Hals- und Schulterpartie besteht aus mehreren zusammengenähten Stoffteilen und kann sich so der Form der Schultern gut anpassen. Eine Vorrichtung zum Zusammenschnüren und somit ‚Abdichten‘ am Hals, wie an der Ingolstädter Pesthaube, fehlt hier.
Die Geschichte zum Objekt klingt gut: Es handelt sich um die Haube eines akademisch ausgebildeten Arztes (medicus) oder handwerklich ausgebildeten Wundarztes (chirurgus), mittels derer sich dieser bei der Behandlung von Pestkranken selbst vor Ansteckung schützte. Außer einer solchen Haube trug er ein bodenlanges Gewand und lederne Handschuhe, um ein Anhaften des Pesterregers zu vermeiden, der – so vermutete man – durch die verseuchte Luft übertragen wurde. Dazu hatte er einen langen Stab bei sich, der ihm zur Untersuchung der Kranken „auf Distanz“ gedient haben mag und ihn als Seuchenarzt kennzeichnete.
Aus der Zeit der Pestepidemien des Spätmittelalters sind jedoch keinerlei Bild- oder Schriftquellen, etwa Anweisungen oder Beschreibungen einer Schutzkleidung, überliefert. Auf diese „Lücke“ im schönen Narrativ stieß Marion Maria Ruisinger und erforscht seither die Bildtradition des Pestarztes.3 Erst anlässlich der 1656 in Rom aufgetretenen Pest kursierte erstmals eine bildliche Darstellung eines solcherart gekleideten Pestarztes,4 der mit hochgeschlagenem Mantelkragen und breitkrempigem Doktorhut an die Figur des Dottore aus der Commedia de l’arte erinnert. Die Grafik fand rasch Verbreitung, fünf Jahre später publizierte Thomas Bartholin eine ähnliche Abbildung in seiner Sammlung anatomischer und medizinischer Merkwürdigkeiten.5 1720 kam es im südfranzösischen Marseille zu einer größeren Pestepidemie. Im Folgejahr erschien Jean-Jacques Mangets Traité de la Peste: Das Titelkupfer ziert die Darstellung eines Pestarztes mit einer Kopfbedeckung, welche der Pesthaube des DHM deutlich ähnelt; diese Darstellung fand ebenfalls weitere Verbreitung. Für den mitteleuropäischen Raum jedoch sind im 17. und 18. Jahrhundert – also der Region und Zeit, in welche die Haube lokalisiert und datiert wird – keine Pestepidemien bekannt.
Das wirft nun für das Exponat und für um historische Urteilskraft bemühte Historikerinnen und Historiker mehrere Fragen auf: Muss die Provenienz eventuell in Zweifel gezogen werden? Ist „Dr. Schnabel“ überhaupt der, den wir darin zu sehen glauben? Oder handelt es sich eventuell gar nicht um eine zur Pestabwehr, sondern zu anderen Anlässen, vielleicht zu Karnevals- oder Fastnachtsfeiern verwendete Haube, gar um eine Replik? Hatte sich das seit 1656 „viral gegangene“ und zweifelsohne attraktive Bildmotiv also verselbständigt? Und wie praktikabel in der Anwendung ist die Haube eigentlich? Passt die Nase in den Schnabel und reichen die beiden Luftlöcher – die bei der Ingolstädter Maske im Übrigen gänzlich fehlen! – zum Atmen aus, oder droht zwar nicht der Schwarze, aber der Erstickungstod? Wie gut sieht man durch die relativ weit auseinanderstehenden Kristallgläser überhaupt? Vielleicht lässt sich manche Frage klären, wenn es im Rahmen der Neukonzeption der Dauerausstellung Gelegenheit für eine erweiterte Untersuchung des Objektes gibt. Statt „Vorsicht, Ansteckung!“ heißt es dann vielleicht: „Vorsicht, Geschichte(n)!“
Verweise
1 Herzlich gedankt sei der Textilrestauratorin am DHM, Jutta Peschke, die das Objekt eingehend untersucht hat.
2 Der Pestbazillus wurde 1894 von Alexandre Yersin entdeckt und nach ihm Yersinia pestis genannt.
3 Ein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Marion Maria Ruisinger vom Deutschen Medizinhistorischen Museum, Ingolstadt, dass sie ihre Erkenntnisse geteilt hat. Vgl. jüngst dies.: Fact or Fiction? Ein kritischer Blick auf den „Schnabeldoktor“. In: Pest! Eine Spurensuche. Ausstellungskatalog hrsg. vom LWL-Landesmuseum für Archäologie, Westfälisches Landesmuseum Herne, Darmstadt 2019, S. 266-274.
4 Der Doctor Schnabel von Rom. Kleidung wider den Tod zu Rom. Anno 1656, veröffentlicht von dem Nürnberger Verleger Paul Fürst. Der Text zur Grafik beschreibt die Schutzkleidung und -vorkehrungen wie folgt: „Also gehen die Doctores medici daher von Rom, wann sie die an der Pest erkrankten Personen besuchten, sie zu curiren und tragen sich vor dem Gift zu sichern ein langes Kleid von gewächstem Tuch ihr Angesicht ist verlarft, für die Augen haben sie große crystalline Brillen, vor der Nasen einen langen Schnabel voll wohlrichender Spezerey, in der Hände welche mit Handschuhen versehen ist [der Arzt auf der Grafik jedoch nicht!], eine lange Ruthe und damit deuten sie, was man thun und gebrauchen soll.“
5 Bartholin, Thomas: Historiarum Anatomicarum & Medicarum Rariorum Centuria […], Bd. 5/6, Kopenhagen 1661, S. 142-145.