Zeugnis des Holocaust: Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen
Thomas Jander | 29. Juli 2020
Der Holocaust hinterließ etwa sechs Millionen Ermordete. Und er hinterließ zahlreiche persönliche Gegenstände, die den todgeweihten Opfern geraubt wurden. Geblieben sind oft nur Namen auf Koffern und anderen Dingen, die nicht verwertet oder verteilt wurden. Diese Dinge wurden zugleich ihrer Geschichte beraubt und erinnern nur noch als stumme Zeugen an ihre ehemaligen Eigentümer und Eigentümerinnen. Thomas Jander, Sammlungsleiter Dokumente und Kurator der Ausstellung „Deportiert nach Auschwitz“, berichtet am Beispiel der Geschichte der ungarischen Jüdin Sheindi Miller-Ehrenwald im DHM-Blog, wie ihre Tagebuchaufzeichnungen zu „sprechenden“ Zeugen dieses historischen Ausnahmeverbrechens wurden.
Versteckt, geschmuggelt und vergraben
Wäre es nach den Täterinnen und Tätern gegangen, würden ihre Taten, wie Heinrich Himmler 1943 in seiner berüchtigten Posener Rede die SS-Gruppenführer beschwor, später etwas „niemals [G]enanntes und niemals zu [N]ennendes“ geblieben sein. Im alltäglichen SS-Schriftverkehr wurde dies längst mehr oder weniger konsequent praktiziert: Verbrechen wie Sklaven- und Sklavinnenarbeit, Deportation und Mord wurden als „Arbeitseinsatz“, „Evakuierung“ oder „Sonderbehandlung“ verschleiert, verleugnet und verschwiegen.
Die Opfer selbst sollten niemals Zeugnis für das an ihnen Begangene ablegen können – und doch sie taten es. In Verstecken, Ghettos und selbst in Konzentrationslagern schrieben die Verfolgten und Inhaftierten nieder, was sie und andere durchleben und durchleiden mussten. Aufzeichnungen – vom Kassiber bis zum Tagebuch – wurden versteckt, geschmuggelt und vergraben, um Raum und/oder Zeit überdauern zu können. Diese Dokumente wurden zu besonders wertvollen Quellen, denn sie geben auf höchst eindrückliche Weise Bericht über dieses, sonst fast ausschließlich durch die verdeckende und verzerrende NS-Verwaltungssprache verschlüsselte Ereignis.
Tagebuch aus Ungarn
Ein solches Zeugnis ist das zentrale Objekt der Ausstellung „Deportiert nach Auschwitz – Sheindi Ehrenwalds Aufzeichnungen“, die wir als Teil unserer Dauerausstellung zeigen. Das Tagebuch, oder besser die daraus entstandenen Aufzeichnungen, sind Kern einer sehr persönlichen und zugleich kollektiven Geschichte: der Geschichte von der Vernichtung der Familie Ehrenwald und die der ungarischen Jüdinnen und Juden.
Als Sheindi Ehrenwald, sechstes Kind des Weinhändlers Lipot Ehrenwald und seiner Frau Cilly, etwa 14½ Jahre alt war, marschierte die Wehrmacht in ihr Heimatland, das eigentlich mit Deutschland verbündete Ungarn, ein. Aus Angst, dass der vom Reichsverweser Miklos Horthy autoritär-faschistisch geführte Staat dem Beispiel des abtrünnigen Italiens folgen könnte, befahl Adolf Hitler für den 19. März 1944 die Besetzung des Landes.
An diesem Tag begann Sheindi mit ihrem Tagebuch. Die Familie wohnte zu jener Zeit in der kleinen Stadt Galanta nahe der slowakischen Grenze. Sie war Teil der großen und lebendigen jüdischen Gemeinschaft. Die Nachricht von der deutschen Besetzung schockierte auch die Ehrenwalds: „Wir sind verloren“ waren, wie Sheindi im Tagebuch vermerkte, die Worte ihrer kleinen Schwester. Ob diese Bemerkung auf ein spezifisches Wissen über den Holocaust und die Todeslager im noch weitgehend unbehelligten Ungarn verweist oder ein diffuses Gefühl der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland im Allgemeinen ausdrückt, ist nicht zu klären. Den Soldaten der Wehrmacht folgte jedenfalls ein Sonderkommando der SS, geleitet von Adolf Eichmann, das eine sehr konkrete Absicht verfolgte: Die Organisation der Verfolgung und Deportation der auf dem ungarischen Territorium lebenden Jüdinnen und Juden nach Deutschland.
Sheindi, ihre Geschwister, Eltern und Großeltern gerieten in den folgenden Wochen in einen Strudel sich überschlagender, traumatischer Ereignisse: Die antisemitischen Gesetze der neuinstallierten ungarischen Regierung markierten und stigmatisierten sie und alle anderen Jüdinnen und Juden mit dem gelben Stern, vertrieben sie aus ihrer Wohnung und verschleppten sie in ein lokales Ghetto, später in ein Sammellager. Sheindis Tagebuch hielt diese Tragödie aus der Perspektive einer Teenagerin fest, die ihre Umwelt genau beobachtet, in ihr leidet, wütend und traurig ist und doch das ganze Ausmaß der auf sie zukommenden Katastrophe nicht erfassen und nicht erahnen kann.
In nicht einmal zwei Monaten trieb die ungarische Gendarmerie in enger Zusammenarbeit mit dem Generalbeauftragten des Deutschen Reiches in Ungarn Veesenmayer und dem Sonderkommando Eichmanns über 437.000 Jüdinnen und Juden zunächst in die über fünfzig eiligst errichteten, ghettoartigen Sammellager und deportierte sie von dort aus in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Dreiviertel der ungarischen Jüdinnen und Juden, die dort bis Juli 1944 ankamen, starben einen qualvollen Tod. Die meisten von ihnen, die die SS als „nicht arbeitsfähig“ einstufte, wurden direkt nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet.
Eine lebenswichtige Erinnerung
Wir wissen nicht genau, wie Sheindi die zwei Monate im Birkenauer Frauenlager überstand, doch sie wurde, wie etwa 100.000 andere jüdische Häftlinge, von deutschen Unternehmen als Zwangsarbeiterin angefordert und entkam diesem Lager und damit höchstwahrscheinlich ihrer Ermordung. Ihr Tagebuch blieb im Chaos des Lagers unentdeckt. Die mittlerweile stark beschädigten Seiten konnte Sheindi in das nächste KZ, ein Außenlager des Komplexes Groß-Rosen, schmuggeln. Mehr noch, es gelang ihr, das Tagebuch heimlich auf Karteikarten des Rüstungsbetriebes, in dem sie arbeiten musste, zu übertragen.
Eigentlich wollte Sheindi die Aufzeichnungen als Erinnerung für ihre Eltern aufbewahren. Doch 1945 kehrten nur sie und ihre Schwester Yitti in die Heimat zurück, alle anderen Mitglieder der Familie Ehrenwald wurden ermordet. Die Tagebuchabschriften blieben eine lebenswichtige Erinnerung. In unserer Ausstellung, die wir in Anwesenheit von Sheindi Miller-Ehrenwald am 22. Januar dieses Jahres eröffnen konnten, zeigen wir diese Seiten nun erstmals einem öffentlichen Publikum. Ihre Präsentation bietet uns die Möglichkeit, die Perspektive der Opfer des Holocaust in unserer Dauerausstellung zu stärken.