Beethovens Musik auf Abwegen
Christian Kämpf | 17. Dezember 2020
„Musiktitan“, „Freiheitskämpfer“, „Heros“ – bis heute ruft Ludwig van Beethoven Verehrer wie Kritiker auf den Plan, die sein Leben und seine Musik vereinnahmen. Christian Kämpf, Kurator des Themenpfads „Beethoven | Freiheit“ in der Dauerausstellung des DHM, zeichnet die politische Instrumentalisierung Beethovens nach und blickt dabei auf zwei besondere Momente deutscher Geschichte.
Das populäre Beethoven-Bild heute beruht im Wesentlichen auf zwei Aspekten: Auf der einen Seite die Einschränkungen, die Beethoven durch sein Gehörleiden erfuhr. Auf der anderen Seite die Freiheiten, die er sich trotzdem in Kunst und Gesellschaft nahm. Beethoven wird als „politischer Komponist“, als „revolutionäres Genie“ begriffen, mitunter sogar als „Heros“ und „Freiheitskämpfer“. Dieses Beethoven-Bild liefert auch die Deutungsperspektive für Leben und Werk des Komponisten, und zwar schon zu seinen Lebzeiten.
Problematisch ist die Tatsache, dass dieses verengte Beethoven-Bild die politische Instrumentalisierung von Leben und Werk des Komponisten in unterschiedlichen Zeiten und Systemen begünstigte und provozierte. Auf die Idee, „Beethoven“ und „Freiheit“ zusammenzudenken, beriefen sich sowohl die Kriegspropaganda des Kaiserreichs als auch antifeudale Kräfte im Vormärz, das SED-Regime wie auch die Nationalsozialisten.
Beethoven, Freiheit, Frieden
Die Auffassung von Beethovens Musik als „Freiheitsmusik“ zog dabei nicht allein Deutungslinien zu Topoi des Kampfes und Sieges, sondern schloss immer schon auch Vorstellungsbilder des Friedens dialektisch mit ein: Mit der Aufführung von Beethovens musikalischem Schlachtengemälde Wellingtons Sieg zu Beginn des Wiener Kongresses 1814 erinnerten sich die Zeitgenossen nicht nur an den Krieg gegen das napoleonische Frankreich und die glorreichen Siege der Allianz. Das Konzertpublikum feierte zugleich den errungenen Frieden als Voraussetzung für ein Miteinander der europäischen Völker in Einigkeit und Freiheit, den die rund 200 Diplomaten in schwierigen Verhandlungen sichern sollten.
Insbesondere Beethovens 9. Sinfonie wird im Spiegel ihrer Rezeption als ein Werk auffällig, mit dem zu verschiedensten Anlässen Idealvorstellungen des Kampfes und Sieges, des Friedens und der Freiheit abgerufen und miteinander verschränkt werden konnten. Zwei Beispiele sollen nachfolgend angesprochen werden: Die Aufführung der Neunten 1952 in der Erzgebirgsstadt Aue im Rahmen der Beethoven-Ehrung der DDR und die Teilaufführung der Sinfonie 1936 im Rahmen des Eröffnungsprogramms der 11. Olympischen Sommerspiele in Berlin.
Beethoven in der DDR
So fand zu Beethovens 125. Todestag am 26. März 1952 in der DDR eine zentralistisch organisierte Festwoche mit Veranstaltungen überall im Land statt, mit Aufführungen bedeutender Werke auch in kleineren Städten. Oft stemmten Laienorchester und -chöre als Teil der sogenannten Deutschen Beethoven-Ehrung das Programm, beispielsweise im Erzgebirge.
Auf dem Aufführungsplakat in Aue war der Leitgedanke zu lesen, unter dem das Konzert stehen sollte: „Unser nationales Recht: Frieden. Nur im Frieden können wir unser nationales Kulturerbe pflegen.“ Als alleiniger Garant für den Frieden galt freilich der Sozialismus im Widerstand gegen den westlichen Imperialismus. Das gehörte zur Staatsdoktrin der DDR. Die Deutungshoheit über Leben und Werk Beethovens und die richtige Pflege seiner Musik als nationales Kulturerbe beanspruchte die DDR-Regierung deshalb für sich. Das Bekenntnis zu Beethoven war, so der damalige Präsident der DDR Wilhelm Pieck, zugleich ein Bekenntnis für den Frieden. In diesem Sinne interpretierte die DDR-Führung wenige Jahre nach dem Krieg die Neunte mit Schillers Ode an die Freude und der Textzeile „Seid umschlungen, Millionen!“ als sozialistische Friedensmusik und nutzte sie als didaktisches Mittel, um das junge Staatsvolk im Geiste des Friedens und der Völkerfreundschaft zu erziehen, nicht ohne die Feinde des Friedens klar im Westen zu verorten.
Dabei waren die Festivitäten der Beethoven-Ehrung 1952 gleichsam ein Probelauf für das größere Jubiläum im Folgejahr: 1953 feierte man Karl Marx aus Anlass seines 135. Geburtstages und 70. Todestages. Beethovens Friedensmusik durfte auch hier nicht fehlen. Sie erklang immer wieder bei den verschiedenen Marx-Festakten im ganzen Land, z. B. am 3. Mai 1953 während der Feierstunde der SED-Bezirksleitung in Erfurt, zusammen mit dem Gefangenenchor aus Fidelio, der Internationalen und dem Lied Stalin, Freund, Genosse, in dem sich der stalinistische Personenkult manifestierte und Stalin als großer Freiheits- und Friedenstifter besungen wurde.
Beethoven im NS
Auch bei der Eröffnung der Olympischen Spiele am 1. August 1936 in Berlin wurden die Themen Kampf und Sieg, Freiheit und Frieden im musikalischen Rahmenprogramm aufgerufen. Den Abschluss der Eröffnungsfeier bildete die Aufführung des 4. Satzes aus Beethovens 9. Sinfonie. Dieser Schlussakzent war Wunsch von Pierre de Coubertin, der vierzig Jahre zuvor die Olympischen Spiele wiederbelebt und das IOC gegründet hatte. Doch erklang Beethovens Musik hier nicht isoliert. Das vom nationalsozialistischen Organisationskomitee geplante Musikprogramm stellte die Neunte in Zusammenhang mit dem Huldigungsmarsch von Richard Wagner, dem Halleluja von Händel, auch mit preußischen Militärmärschen, dem Deutschlandlied und dem Horst-Wessel-Lied sowie mit neuen Musikbeiträgen der „Gottbegnadeten“ Richard Strauss, Carl Orff und Werner Ergk. Schließlich war die Ode an die Freude in das Tanzfestspiel Olympische Jugend eingebunden, in dem u. a. von „Friede, Freude, Fest der Jugend“, aber auch vom „Kampf um Ehre, Vaterland“ gesungen wurde.
Während Coubertin mit der Ode an die Freude den friedlichen und völkerverbindenden Gedanken der Olympischen Spiele unterstrichen wissen wollte, bezogen die Nationalsozialisten nicht zuletzt durch den musikalischen Kontext das „Seid umschlungen, Millionen“ hier exklusiv auf die eigene Bewegung und die deutsche Volksgemeinschaft. Unter diesem Vorzeichen erklang in den Jahren danach die 9. Sinfonie auch in Festkonzerten aus Anlass von Hitlers Geburtstag.
Hitlers Beethoven-Bild entsprach dabei wohl ziemlich genau der Darstellung, die Josef Jurutka 1937 in seinem Gemälde-Stillleben Beethoven entworfen hatte: Über erloschener Kerze, Schreibfeder, vergilbten Notenpapier und einem Streichinstrument schwebt die Lebendmaske des Komponisten lorbeerumkränzt. Als genialer Schöpfer scheint Beethoven hier nach der Vollendung seines Werkes zu triumphieren, den Siegerkranz als willensstarker und pflichtbewusster Tatmensch kämpferisch gegen alle irdischen Widerstände errungen, der Endlichkeit durch die eigenen Taten enthoben. Damit konnte Hitler sich identifizieren. 1939 kaufte er das Gemälde privat.
Hinter vermeintlichen Friedensbekenntnissen, die durch Beethovens Musik, insbesondere durch die 9. Sinfonie, vermittelt wurden, stand daher oftmals das bekannte Rezeptionsmuster „Beethoven und die Freiheit“, durch den die Aspekte der Freiheit und des Friedens mit Vorstellungen des Kampfes und Sieges verschränkt sind und damit auch distinktive Bilder konkreter Gegner und Feinde verbunden waren. Ein Bewusstsein von solchen rezeptionsgeschichtlichen Abwegen kann davor bewahren, die Erzählung von Beethoven als Freiheitsikone pathetisch und bruchlos fortzuschreiben, gerade auch in Hinblick auf die Ode an die Freude, die heute als Europahymne für die europäischen Werte Gleichheit, Solidarität, Freiheit und Frieden stehen soll.