„Geht einmal nach Darmstadt!” – „Let’s walk down Pennsylvania Avenue“
Der Sturm auf Parlamente hat eine lange Geschichte
Matthias Miller | 20. Januar 2021
Am 6. Januar 2021 forderte Donald Trump, der noch amtierende Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, seine Anhängerschaft auf, zum Kapitol zu marschieren und dort gegen die Auszählung der Stimmen der Wahlleute zu protestieren. Die folgenden Szenen, die in der Erstürmung und Verwüstung des Kongressgebäudes in Washington D.C. gipfelten, sind noch frisch in der Erinnerung. Manche Kommentatoren sprachen von einer Niederlage der Demokratie, einer Entweihung eines urdemokratischen Ortes, und zogen Parallelen zur vereitelten Erstürmung des Kapitols in Rom im Jahr 390 v. Chr. durch die Senonen, einem Keltenstamm unter einem Heerführer mit dem sprechenden Namen Brennus.
Die Geschichte der Erstürmung von Parlamentsgebäuden reicht von der Antike bis in die Gegenwart. Doch unterscheiden sich die Ereignisse in Ursache, Urheberschaft und Ausführung und lassen sich grob in vier Gruppen einteilen: zur ersten Gruppe zählen die Eroberungen von Parlamenten durch ausländische militärische Einheiten im Verlauf eines bewaffneten Konflikts oder Kriegs. Die zweite Gruppe bilden die Eroberungen eines Parlaments durch inländische militärische oder paramilitärische Einheiten im Falle eines Putsches. Zur dritten Gruppe zählen Erstürmungen von Parlamenten, Regierungssitzen oder Schlössern durch revolutionäre Aufständische und zur vierten die Erstürmungen von Parlamenten durch eine in der Regel unbewaffnete Gruppe demonstrierender Menschen, die der Volksmund gemeinhin als Mob bezeichnet, wobei die Abkürzung Mob für mobile vulgus, frei übersetzt: eine reizbare Volksmenge, steht.
Bei der ersten Gruppe findet das Ereignis den Umständen des Kriegsverlaufs entsprechend eher zufällig statt und ist meist auch nur der symbolische Abschluss eines Kriegszuges. So eroberten im August 1814 britische Truppen Washington und brannten das Gebäude des Parlaments, das Kapitol nieder. Das Hissen der Sowjetischen Flagge auf dem Berliner Reichstag 1945 ist eines der bekanntesten Beispiele für die Eroberung eines Parlaments durch fremde Truppen. Dass hier allerdings ein Gebäude erobert wurde, in dem seit Jahren kein Parlament mehr getagt hatte, und das bereits seit 1933 Ruine war, spielte keine Rolle. Für propagandistische Zwecke wertvoll war das Ereignis dennoch und wurde in den berühmten Fotos von Jewgeni Chaldej auch entsprechend gut inszeniert.
Die Liste gestürmter Parlamente während Militärputschen ist lang. Am eindrücklichsten sind manchen wahrscheinlich noch die Bilder aus Madrid vom 23. Februar 1981 in Erinnerung, als Teile der Guardia Civil und bewaffnete Soldaten der Armee das Parlament stürmten und dadurch versuchten, die noch junge Demokratie zu beenden und erneut eine Diktatur in Spanien einzuführen. Erst durch die beherzte Rede des Oberbefehlshabers der Armee, König Juan Carlos wurde der Spuk beendet.
Auch die Beschießung des sogenannten Weißen Hauses, des Sitzes der Regierung in Moskau am 3. Oktober 1993 fällt in diese Kategorie. Hier änderte sogar die Zerstörung des Gebäudes nichts an der politischen Situation.
Bemerkenswert sind nach den aktuellen Vorgängen in Washington jedoch historisch gesehen vor allem die Erstürmungen von Parlamenten, die im Zusammenhang mit Revolutionen und Demonstrationen stehen. Denn hier ist eine erhebliche Verdichtung der Ereignisse zu beobachten. Waren Parlamentsstürme während revolutionärer Umtriebe wie etwa in Paris 1792 oder in Frankfurt am 18. September 1848 seit der Entwicklung von Parlamenten im späten 18. Jahrhundert populär, werden die Abstände zwischen den Erstürmungen von Parlamenten vor allem seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts durch demonstrierende Menschen immer kürzer. Schon Georg Büchner rief während des Vormärz im Juli 1834 im Hessischen Landboten unter dem Titel „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ zu einem Marsch nach Darmstadt auf und versuchte damit, seine Parlamentskritik zum Zündfunken für eine Revolution zu machen:
„Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euren hungernden Weibern und Kindern, dass ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind.“
Kritik am Parlamentarismus im Sinne von „Die da oben tun nichts (oder das falsche) für uns hier unten“ ist wahrscheinlich so alt, wie der Parlamentarismus selbst. Und doch war seit der Etablierung der ersten Volksvertretungen in England, den USA oder Frankreich das Gebäude, in dem die Parlamente tagten, ein Ort, der nicht angetastet werden durfte, da sich hier der Wille des Volkes manifestierte. Diese respektvolle Haltung zum Parlamentsgebäude scheint sich jedoch mehr und mehr zu verflüchtigen, häufen sich doch in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Erstürmungen von Parlamentsgebäuden durch aufgebrachte Demonstranten mehr und mehr. Eine nicht erschöpfende Chronologie zeigt dies: Belgrad (05.10.2000), Skopje (25./26.06.2001), Tiflis (22.11.2003), Brasilia (06.06.2006), Quito (30.01.2007), Cisinau (07.04.2009), Bangkok (07.04.2010), Athen (05.05.2010), Kuwait (16.11.2011), Tripolis (03.10.2012), Ouagadougou (30.10.2014), Bagdad (02.05.2016), erneut Brasilia (16.11.2016), erneut Skopje (28.04.2017), Caracas (05.07.2017), Tiflis (20.06.2019), Hongkong (01.07.2019), Bischkek (06.10.2020), erneut Belgrad (11.07.2020), Jerewan (10.11.2020) und Washington (06.01.2021). Der Sturm auf den Berliner Reichstag im August 2020 am Rande einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung scheiterte nur, weil sich drei Polizisten den Demonstranten entgegenstellten.
Bei der Erstürmung von Parlamenten in der jüngsten Vergangenheit spielen Proteste gegen gefälschte oder „gestohlene“ Wahlen immer wieder eine Rolle, aus der langen Liste trifft dies vor Washington unter anderem auf Tiflis, Cisinau, Ouagadougou, Bagdad, Skopje und Bischkek zu. Befördernd sind bei der Häufung solcher Ereignisse sicherlich auch die modernen Medien, lassen sich doch spontane Aktionen und Demonstrationen gerade über die sozialen Netzwerke schnell und unauffällig organisieren und koordinieren. War der Aufruf Büchners 1834 nach Darmstadt zu gehen noch in 1.200 gedruckten Exemplaren mit der Postkutsche verbreitet worden, verbreitete sich der Aufruf Trumps die Pennsylvania Avenue hinunter zu spazieren in Echtzeit an Millionen von Menschen. Standen 390 v. Chr. noch die Kelten, die „Barbaren“, also „das Fremde“ vor den Toren Roms und wurden von einem Sturm auf das Kapitol nur durch laut schnatternde Gänse abgehalten, randalierte 2021 in Washington das vom amtierenden Präsidenten aufgestachelte „Eigene“ im Parlament und fläzte sich im Stuhl von Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses. Büchners Aufruf mag nicht legal, höchstens vielleicht legitim gewesen sein, der Aufruf Trumps 2021 war verfassungswidrig und folgte seiner Diktion der Zerstörung der demokratischen Strukturen.