Fred Stein – Ein Familienporträt von Peter Stein
Peter Stein | 11. März 2021
In einem Kunstwerk scheint häufig auch etwas von der Persönlichkeit dessen durch, der es geschaffen hat. Auf das fotografische Werk meines Vaters Fred Stein trifft das jedenfalls zu. Seinen Bildern ist etwas von den Gefahren abzulesen, denen er in seinem Leben ausgesetzt war, und von seinem tiefen Glauben an das Ideal des Humanismus.
Als aktiver Antifaschist und Jude musste er 1933 aus Deutschland fliehen, zunächst nach Paris. Der ausgebildete Jurist konnte dort seinen Beruf nicht mehr ausüben und verlegte sich auf sein Hobby, die Fotografie. Mit der Leica, die meine Mutter Lilo und er einander zur Hochzeit geschenkt hatten, wurde aus dem Hobby schnell ein Beruf.
In seinen Aufnahmen von Pariser Straßenszenen entwickelte er einen ganz eigenen, realistischen Stil – die handliche Leica, eine Kleinbildkamera mit Filmspule, machte zum ersten Mal Schnappschüsse möglich. Aber auch als Porträtfotograf zeigte er ein feines Gespür und eine künstlerische Handschrift. Viele namhafte Persönlichkeiten aus dem Pariser Kulturleben der Zwischenkriegszeit ließen sich von ihm ablichten.
Ein Ausschnitt der Welt
Meine Schwester Mimi wurde 1938 in Paris geboren. Dann brach der Krieg aus und meine Eltern mussten aus Frankreich fliehen. Auf verschlungenem, leidvollem Weg schlugen sie sich bis nach New York durch, wo sie 1941 eintrafen. Dort kam ich dann 1943 zur Welt.
Mein Vater war jemand, zu dem ich schon als Kind aufblickte. Unsere Mutter vermittelte uns von klein an das Gefühl, es mit einem besonderen Menschen zu tun zu haben. Jeden Morgen verließ er das Haus und hatte abends, wenn er zurückkehrte, am Abendbrottisch von immer neuen Abenteuern des Tages zu berichten. Wenn er in seinem Atelier oder anderswo Berühmtheiten fotografiert hatte – deren Namen mir damals natürlich noch nichts sagte –, reichte ein Blick auf meine Mutter, um zu sehen, dass es sich offenbar um bedeutende Persönlichkeiten handelte und sie vor Stolz auf ihren Fred regelrecht platzte. Mein Vater las uns auch aus der Zeitung vor und erklärte uns, was in der Welt vor sich ging.
Wir wohnten in Washington Heights in Manhattan, einem Viertel mit vielen deutschen und österreichischen Emigranten, von meinen Eltern scherzhaft das „Vierte Reich“ genannt. Unsere Wohnung war groß, die Miete gering, und mein Vater genoss den Luxus, sich eine Dunkelkammer mit angrenzendem Badezimmer einrichten zu können. Zum Wässern nutzte er die Badewanne, in der eigentlich immerzu Abzüge schwammen.
Manchmal durfte ich ihn auf seinen Streifzügen begleiten. Er trug immer ein oder zwei Kameras bei sich. Dann und wann blieb er stehen, um sich etwas genauer anzuschauen – eine Spiegelung in einem Schaufenster oder ein Straßenschild oben in der Luft. Dann erklärte er mir, warum sein Auge darauf gefallen war und warum es sich als Motiv eignete. Von ihm habe ich gelernt, mit einem anderen Blick auf das zu schauen, was um mich herum ist – eine Welt voller Dinge, die man allzu leicht übersieht.
Unsere Spaziergänge führten uns durch Chinatown, Little Italy, Washington Square und viele andere Stadtteile. Ich war ein sehr schüchternes Kind, aber mein Vater scheute nicht davor zurück, mit fremden Menschen ins Gespräch zu kommen und sie nach ihrem Leben auszufragen. Er interessierte sich für andere Leute und die meisten standen ihm bereitwillig Rede und Antwort.
Schon in jungem Alter brachte er mir das Fotografieren bei. Ich durfte ihm auch in der Dunkelkammer bei der Arbeit zusehen, und mich an der Entwicklung und an Abzügen meiner eigenen Fotos versuchen. Das konnte ich irgendwann so gut, dass ich auf dem Gymnasium bei einem Landeswettbewerb sogar einen Preis erhielt.
Neben den rein technischen Aspekten lernte ich von meinem Vater aber auch die wichtigsten Prinzipien der Bildkomposition und des Lichteinfalls – dass die Platzierung der Kamera genauso wichtig ist wie die Auswahl des Motivs. Man kann sagen, dass er mir beibrachte, wie man die Welt in einen Ausschnitt packt, ihr einen Rahmen gibt.
Er sprach mit mir sehr viel über Kunst, schenkte mir Bildbände und nahm mich mit in Museen und Galerien. Ich wurde später dann Kameramann, arbeitete in New York, in Hollywood und auf der ganzen Welt für Theater und Fernsehen.
Wenn mein Vater zu Hause war, hielt er sich entweder in der Dunkelkammer auf oder las etwas – Zeitungen, Zeitschriften und mindestens zwei Bücher pro Woche. Er hatte zu allem eine informierte Meinung. Bei uns galt er als Experte auf beinahe jedem Gebiet, besonders aber auf dem der Politik. Er war sehr scharfsinnig und weitsichtig – ein demokratischer Sozialist, der den Faschismus gleichermaßen ablehnte wie den Kommunismus. Er verabscheute Stalin aus tiefstem Herzen. Als viele in Erwägung zogen, der Kommunistischen Partei beizutreten, weil Russland eines der wenigen Länder war, die sich gegen Hitlerdeutschland zur Wehr setzten, versuchte er sie mit vielen Argumenten davon abzuhalten. Auch die Gefahren des Nationalsozialismus hatte er sehr früh erkannt und viele Juden davor zu warnen versucht.
Mein Vater wurde nur 58 Jahre alt, er starb 1967. Damals galt Fotografie noch nicht als Kunstform, sein Name war also nur einem kleinen Kreis von Leuten geläufig. Das störte ihn überhaupt nicht, denn ihm war nicht Ruhm, sondern die Begegnung mit Menschen wichtig und ein angeregter Gedankenaustausch Die Porträtsitzung mit Albert Einstein zum Beispiel, für die zehn Minuten vorgesehen waren, dauerte am Ende zwei Stunden. Die beiden haben sich prächtig unterhalten.
Als die Fotografie Ende der Siebziger, Anfang der Achtzigerjahre in den Rang einer Kunstgattung aufstieg, wurden viele seiner Zeitgenossen allmählich bekannt und später regelrecht berühmt. Mein Vater konnte davon nicht mehr profitieren. Sein Werk geriet in Vergessenheit.
Ich versuchte das zu ändern, sobald ich mir selbst beruflich einen Namen gemacht hatte. Bis ihm endlich die wohlverdiente Anerkennung zuteil wurde, verging trotzdem noch recht viel Zeit. Inzwischen ist er zum Glück kein Unbekannter mehr und bedeutende Museen in verschiedenen Ländern haben seinem Oeuvre Ausstellungen gewidmet.
Fred Stein gehört zu den Pionieren der Straßenfotografie im Paris der Dreißiger- und New York der Vierzigerjahre. Seine Aufnahmen sind nicht nur von ästhetischem und historischem Interesse, sondern auch mit natürlichem Licht erzeugte ausdrucksstarke Charakterporträts. In seinen Milieu- und Sozialstudien zeigt sich sein künstlerischer und zutiefst menschlicher Blick und in seinen Porträts von Menschen im Exil seine politische Haltung ebenso wie seine Fähigkeit, die Personen, die ihm Modell standen, intellektuell und emotional sehr sensibel zu erfassen.
Für mich ist es eine große Freude, dass im Deutschen Historischen Museum nun viele Originalabzüge meines Vaters zu sehen sind. Die Kuratorin hat eine glückliche Hand bei der Auswahl und der Hängung bewiesen, sodass die Ausstellung gut erkennen lässt, dass mein Vater als Künstler mit politischem und humanistischem Anspruch Beachtliches geleistet hat.