Der „Osten“ auf der documenta und die Großausstellung als Ereignis und Institution
Dorothee Wierling | 18. Juli 2021
Die Haltung der documenta zum „Osten“ und der gesellschaftsgeschichtliche Aspekt der Weltkunstschau als Themen unserer Ausstellung erläuterte Co-Kuratorin Prof. Dr. Dorothee Wierling bei Ihrer Rede zur Eröffnung von „documenta. Politik und Kunst“ am 16. Juni 2021.
Der Westen als politisches und kulturelles Konstrukt im Kontext des Kalten Krieges ist nicht denkbar ohne sein „Anderes“, den „Osten“. Dieser Begriff stand schon seit dem 19. Jahrhundert im europäischen Kontext für Rückständigkeit und Kulturlosigkeit – und die Gleichsetzung mit Kommunismus und Stalinismus in der Frühphase des Kalten Krieges fügte dem eine politische Dimension zu. Die Totalitarismustheorie der 1950er Jahre definierte Kommunismus und Nationalsozialismus als zwei Seiten derselben Medaille – und diente damit der Abgrenzung gegenüber dem „Osten“ ebenso wie der Distanzierung vom Nationalsozialismus mit dem Effekt, dass die Westdeutschen sich mit dieser Vergangenheit nicht konkret und persönlich auseinandersetzen mussten.
Die ersten documenta-Ausstellungen bilden diese Linie in reinster Form ab. (Werner Haftmann erklärte den „sozialistischen Realismus“ ebenso zur Nichtkunst wie die Kunst-Produkte des Nationalsozialismus – beiden setzte er die Abstraktion als Inbegriff westlicher Freiheit gegenüber.) Bei dem Ausschluss von Kunst aus dem sozialistischen Staat blieb es, auch als schon in den 1960er Jahren DDR-Künstler selbst die dogmatische Kunstpolitik Ulbrichts kritisierten. Aus Gegnerschaft wurde Nichtwissen und schließlich Vergessen – und das über den Fall der Mauer hinaus.
Alexia Pooth, die den Raum über den „Osten“ kuratorisch betreut hat, hat bewusst die Perspektive gewechselt. Sie zeigt z.B. einen Brief, den Gerhard Richter 1959 von der documenta 2 an einen Freund in Dresden schrieb – ein Jahr, bevor er selbst die DDR verließ, war er noch angeekelt vom westlichen Kapitalismus und westlicher Kunst – wie er uns im Interview erläuterte, Ausdruck einer tiefen Ambivalenz gegenüber der DDR wie der Bundesrepublik.
Nur einmal – 1977, auf dem Höhepunkt der Entspannungspolitik – öffnete sich die documenta für Kunst aus der DDR. Die Werke auf der documenta 6 zeigten auch, in welchem Ausmaß selbst „Staatskünstler“ sich vom „sozialistischen Realismus“ entfernt hatten. Wolfgang Mattheuers Werk „Horizont“ von 1970 ist ganz dominiert von einer dunklen, leeren Hügellandschaft, vor der ein surrealistisches Ensemble aus einer überdimensionalen Zeitung, einem menschlichen Ohr und einem Bürokraten mit Akte, Telefon und Kabelknäuel neben einem Schlafenden zu sehen ist, aus dessen Mund Papier entweicht – unverdaut oder ungenießbar. Am oberen Rand sehen wir den hellen freundlichen Horizont, in den winzige, bunt gekleidete Menschen eintreten wie in einen fernen Himmel. Die DDR-Kunst wurde überwiegend wohlwollend aufgenommen, blieb aber eine Ausnahme. Die erfolgreiche und folgenreiche „Westernisierung“ der Bundesrepublik verhinderte selbst die bloße Neugier auf den Osten als ihr Anderes.
„Die documenta ist zwar eine internationale Ausstellung“, so Raphael Gross in einem unserer Teamgespräche, „aber bedeutsam ist sie vor allem für die Geschichte der Bundesrepublik.“ Dem trägt das letzte Ausstellungsthema im Raum 5: „Die documenta als Ereignis und Institution“ Rechnung. Jede documenta wurde von hochrangigen Bundespolitikern besucht, ein Verweis auf ihren Stellenwert in der Symbolpolitik des westdeutschen Staates. Doch dahinter steckte auch reale Unterstützung, garantierte der Staat doch von Beginn an die Grundfinanzierung der documenta ohne Eingriff in die künstlerische Freiheit der Akteure. Diese selbst profilierte sich dagegen weniger durch explizit politische Kunst – sieht man von einzelnen Künstlern wie Josef Beuys oder Hans Haacke ab; vielmehr nutzte sie die garantierte Freiheit und bildete so das Selbstverständnis der Bundesrepublik künstlerisch ab.
Mich hat vor Allem der gesellschaftsgeschichtliche Aspekt der documenta interessiert. Ausgangspunkt ist das Publikum, das über den gesamten Zeitraum ein bestimmtes Segment der bundesrepublikanischen Gesellschaft vertritt: das klassische und das „neue“ Bildungsbürgertum, also Personen mit höheren Bildungsabschlüssen sind darin noch eindeutiger überrepräsentiert als die Jahrgänge der 20- bis 40-Jährigen. Dabei blieb es trotz der bis 1997 fast um das Fünffache steigenden Besucherzahlen.
Die documenta wollte sowohl eine exklusive, als auch eine demokratische Veranstaltung sein. Dem entsprach, dass auch die Haltung des Publikums von zwei Bedürfnissen bestimmt war: den Wunsch, durch Erklärung und Führung der zeitgenössischen Kunst näher zu kommen und damit an Souveränität zu gewinnen, hat Hans Hollein auf der documenta 8 ironisch kommentiert. Er macht den erklärenden Text zum Hauptwerk, während das Kunstwerk auf das Täfelchen am unteren Rand verbannt wird. Aber auch die unbefangene Neugier auf die Kunst und das entspannte Flanieren zwischen den Bildern und Skulpturen charakterisierte das Besucherverhalten. Die documenta entwickelte sich zunehmend zu einem populären Groß-Event – und entwickelte – bei steigenden Einnahmen – ein eigenes Geschäftsmodell. Diese Kommerzialisierung blieb in der Kunstszene nicht unwidersprochen. Die Aktion der Textilkünstlerin Annemarie Burckhardt, die vor der documenta 9 einen „falschen documenta-Katalog“ aus Schaumstoff und bestickter Hülle herstellte, verdankte ihren Erfolg der Drohung des documenta-Geschäftsführers, sie wegen Verletzung des „Markenschutzes“ zu verklagen. Er hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass das Kissen nun erst recht ein Verkaufsschlager wurde. Die Geschichte verweist auch auf, dass die documenta zunehmend als ein offener Raum galt, was von dieser durchaus als bedrohliche Grenzüberschreitung wahrgenommen wurde. So bildet die documenta nicht nur gesellschaftliche Prozesse ab – insbesondere Bildungsboom und liberalen „Wertewandel“ seit den 1970er Jahren – sondern auch kulturelle Veränderungen, die mit den Stichworten Eventisierung und Kommerzialisierung gekennzeichnet werden.
Empfohlener Inhalt
Pressekonferenz zur Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ am 16. Juni 2021