Die documenta und die abwesenden Anderen
Lars Bang Larsen | 19. August 2021
Kritik an der documenta wurde über die Jahre von vielen verschiedenen Personen und Gruppen laut. Besonders das Verhältnis von männlichen zu weiblichen oder auch queeren Beteiligten an der Ausstellung stand immer wieder im Fokus. Lars Bang Larsen, Co-Kurator der Ausstellung “documenta. Politik und Kunst” beleuchtet einige Protestaktionen und wie sich dieses Verhältnis von der ersten bis zur zehnten documenta verändert hat.
Es gehört zum Nachkriegserbe der documenta, dass ihre Veranstalter die historischen Narrative der „Anderen“ – darunter auch der „Osten“ und die vom NS-Regime Verfolgten und Ermordeten – ignorierten oder verfälschten. Nur langsam und schrittweise nahmen die Verantwortlichen die „Anderen“ zur Kenntnis. Die Tendenz zur Entpolitisierung, die Teil der DNA der documenta war, verzögerte die Einbeziehung anderer Stimmen bis an die Schwelle zum 21. Jahrhunderts.
Wenn man die Geschichte der documenta anhand ihrer Darstellungen und Selbstdarstellungen einer kritischen Betrachtung unterzieht, bedeutet dies auch, sich mit einer patriarchalischen Institution auseinanderzusetzen. Im Hinblick auf Race und Gender blieb die Ausrichtung der documenta überwiegend weiß und männlich. Die Reaktion der in New York ansässigen feministischen Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls auf die documenta 8 ist durchaus aufschlussreich: Sie entwarfen eine Visitenkarte mit der schlichten Frage: „Warum ist die documenta 1987 zu 95% weiß und zu 85% männlich?“, die auf der documenta verteilt wurde. Ein Mitglied der Gruppe erinnert sich: „Wir haben uns die Liste mit den Künstlern auf der documenta angesehen und die Zahlen ausgewertet. Dann haben wir die Karte in New York entworfen und gedruckt und sie Leuten mitgegeben, von denen wir wussten, dass sie die documenta besuchen würden.“
Im 20. Jahrhundert war die in den meisten documenta-Ausstellungen präsentierte Kunst männlich definiert, während der Ausschluss von Künstlerinnen nicht einmal thematisiert wurde. Seit Ende der 1960er Jahre gab es immer wieder feministische Proteste gegen die documenta, und es entwickelte sich eine Art Gegenkultur, die die Künstlerin Chris Reinecke mit einem Happening begründete, als sie auf der Pressekonferenz der documenta 4 den künstlerischen Leiter Arnold Bode küsste. In einem Interview für den Ausstellungskatalog von documenta. Politik und Kunst, das sie mit Co-Kuratorin Julia Voss führte, sagte sie: „Ich wollte [Bode] provozieren, als Frau. Ich wollte sehen, wie er, der große Meister, reagiert Aber er schob mich einfach beiseite, und genau das hatte ich eigentlich auch erwartet. Diese Generation hatte einfach keinen Humor. Er hätte ja auch sagen können: ‚Komm her, Mädchen, ich küss dich zurück.’“ Wie wir von den Guerilla Girls wissen, fiel Reineckes protofeministische Aktion auf unfruchtbaren Boden, und damit scheiterte auch ihr Versuch, die geschlechtsspezifische Verknüpfung zwischen dem Patriarchat der 1950er Jahre und dessen Vorliebe für „das gute alte Tafelbild“, wie Reinecke es ausdrückte, aufzubrechen.
Erst 1997, als man Catherine David die künstlerische Leitung der documenta X übertrug, übernahm zum ersten Mal eine Frau das Ruder. Dies markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der documenta, der weitere bahnbrechende Änderungen zur Folge hatte. Es war die erste documenta, die Kunst als Verbindung aus „Politik“ und „Poetik“ definierte. Im Haupttext des Ausstellungskatalogs zur documenta X mit der Überschrift Das politische Potential der Kunst – ein Gespräch zwischen Catherine David und den Kunsthistorikern Jean-François Chevrier und Benjamin Buchloh -, beklagt sich Buchloh allerdings darüber, dass europäische Intellektuelle sich des „Feminismus oder einer gewisser Rezeption von amerikanischer Multikulturalität“ bedienten, ohne die damit einhergehende politische Realität ausreichend zu berücksichtigen. Wie es scheint, war die feministische Politik in den 1990er Jahren einfach nicht politisch genug: Tatsächlich wäre Buchlohs Argument überzeugender gewesen, wenn er die jahrzehntelange Ignoranz der documenta gegenüber dem Feminismus in seine Überlegungen einbezogen hätte.
Als Reaktion auf die Ausstellung documenta. Politik und Kunst schreibt Alexander Farenholtz in einer E-Mail, dass, selbst wenn die kunstmarktfreundliche documenta 9 kaum als Musterbeispiel für künstlerische Innovation gelten könne, die von Jan Hoets kuratierte Ausstellung im Rückblick Anerkennung verdiene, denn „Schwule/Queere, Schwarze, Migrantische Identitäten waren, soweit ich weiß, erstmals explizit (übrigens erstmals auch im Leitungsteam) ausdrücklich und sichtbar Thema“. Dies ist eine interessante Feststellung, auf die es sich näher einzugehen lohnt. Natürlich waren queere Künstler*innen auch früher auf der documenta vertreten, darunter Künstler wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Andy Warhol auf der documenta 3 und 4 – und zweifellos auch andere vor ihnen. Allerdings wurde ihre Homosexualität seitens der documenta in keiner Weise thematisiert. Das änderte sich erst 1968 mit David Hockneys Beitrag zur documenta 4: Als Teil der großen Gruppe US-amerikanischer und britischer Pop-Art-Künstler, die auf der documenta americana vertreten war, präsentierte Hockney zahlreiche Gemälde und Druckgrafiken, darunter auch homoerotische Radierungen der Serie Fourteen Poems from Cavafy (1966), von denen eine – die Darstellung eines männlichen Paars, nackt und schlafend, im gemeinsamen Bett – sogar eine eigene Seite im Ausstellungskatalog bekam.
Diese diskrete Sichtbarmachung schwuler Subjektivität auf der documenta 4 blieb jedoch eine Ausnahmeerscheinung. Meines Wissens fanden in der innovativen documenta 5 unter Leitung von Harald Szeemann andere Geschlechtsidentitäten keine Berücksichtigung. Natürlich waren schwule Künstler wie Paul Thek und David Medalla mit raumfüllenden Arbeiten vertreten, aber man musste schon genau hinsehen, um in ihrem Werk queere Anspielungen zu entdecken, wie beispielsweise eine von Medallas Seifenschaum ausstoßende Bubble Machines, die er in seinem und John Duggers People’s Participation Pavillon (1972) – eigentlich eher eine Art Schrein für kommunistisches Ideengut – präsentierte. Insofern war das Interesse, dass die documenta 5 an Außenseitern des Kulturlebens und an kulturellen Ausdrucksformen abseits des Mainstream zeigte – was charakteristisch für 1968er Generation war – bezeichnenderweise heteronormativ geprägt. Da fragt man sich natürlich, was Szeemann und seine Co-Kuratoren wohl von Kenneth Angers perfekt inszenierter Lederszene in Scorpio Rising hielten, seinem Kunstfilm von 1963 für Männer mit einer Vorliebe für Lederjacken und gut bestückte Jungs, der Teil des Filmprogramms der documenta 5 war.
Die Künstlerin Loretta Fahrenholz hat für die Ausstellung documenta. Politik und Kunst neue Arbeiten kreiert, darunter die Siebdruckserie We-Wolf und die Performance A Way of Turning. Beide Beiträge beziehen Themen mit ein, die auf den documenta-Ausstellungen des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen waren: kommunistische und jüdische Künstler*innen, queere und rassifizierte Inhalte. In Fahrenholz’ Arbeiten begegnen sie uns als wiederkehrende, uns heimsuchende Gestalten, die die bei den documenta-Verantwortlichen beliebte Phrase von der „freien Kunst“ beharrlich infrage stellen. In einem Interview im Ausstellungskatalog sagt sie: „Ich sehe diese Art der Heimsuchung als eine Vorwärts- und Rückwärtsbewegung, als die Anwesenheit aller Dinge, die existieren, auch wenn man ihre Existenz leugnet.“ Durch die Gestik von Fahrenholz’ Performer*innen, das Nachhallen ihrer Bilder, können wir einigen der von der documenta ausgeschlossenen „Anderen“ nachspüren und sie für uns erfahrbar machen.