5 Fragen an: Stephanie Neuner
28. Oktober 2021
Das Zeughaus des Deutschen Historischen Museums wird saniert und die Dauerausstellung „Deutsche Geschichte vom Mittelalter bis zum Mauerfall“ abgebaut. Gleichzeitig arbeitet das DHM an einer neuen Ständigen Ausstellung – ein Großprojekt, das das gesamte Museum betrifft. In der Interview-Reihe „5 Fragen an…“ kommen Mitarbeitende aus verschiedenen Abteilungen zu Wort und berichten von ihren Erinnerungen an die frühere Dauerausstellung und derzeitigen Erlebnissen. Den Anfang macht Dr. Stephanie Neuner, Leiterin der Dauerausstellung.
Frau Neuner, die Dauerausstellung ist seit Ende Juni geschlossen. Gab es für Sie ein Objekt oder einen Bereich in der Ausstellung, mit dem Sie eine besondere Erinnerung oder Geschichte verbinden?
Stephanie Neuner: Es gab im Obergeschoss im Bereich „Biedermeier“ ein Objektensemble, an das ich mich gut erinnere. Zu sehen waren hier drei Puppen, gefertigt in der Mitte des 19. Jahrhundert. Vor ein paar Jahren nahm ich die Puppen das erste Mal bewusster wahr, da ich zu dieser Zeit zum Thema der Armenfürsorge im 19. Jahrhundert arbeitete. Im Stadtarchiv Göttingen hatte ich den Bericht einer sogenannten Armenfürsorgerin eines bürgerlichen Frauenvereins gelesen, die eine in Armut geratende Familie besuchte. Der Bericht beschrieb die häusliche Szene der Familie und berichtete davon wie Eltern und Kinder Puppen für die örtliche Puppenmanufaktur in Heimarbeit herstellten. Nun konnte ich mir eine Vorstellung davon machen, wie, von wem und unter welchen Bedingungen Puppen wie die in der Vitrine ausgestellten hergestellt worden waren. Vor dem Hintergrund meines Wissens konnte ich den Puppen einen sozialgeschichtlich wichtigen, zusätzlichen Kontext geben.
Angesichts der Bedingungen der Heimarbeit und der existenziellen Abhängigkeit armer Familien von ihrem Tagelohn, die in den historischen Quellen zum Ausdruck kommen, formte sich bei mir folgender Gedanke: Arme Kinder fertigten mit ihren Eltern und Geschwistern in Heimarbeit ein Produkt, das dem Spiel und der Zerstreuung diente, für Kinder wohlhabender Familien – ein bis heute wohl aktuelles Phänomen der globalen Produktion von Konsumgütern.
Dem Objekt, das in der Dauerausstellung ausgestellt war zum Thema der „Entdeckung der Kindheit“ im 19. Jahrhundert, ist der Kontext seiner Produktionsbedingungen nicht anzusehen. Objekte geben nicht von selbst sämtliches Wissen zu ihrer Geschichte, ihrer Herkunft, Herstellung, zu unterschiedlichen Gebrauchs- und Deutungskontexten preis. Es ist daher wesentlich, dass Kurator*innen solche nicht offensichtlichen, aber inhaltlich wichtigen Kontexte für Besucher*innen sichtbar machen.
Sie sind seit 2019 am Deutschen Historischen Museum als Kuratorin der Dauerausstellung tätig. Gab es einen Umbau oder eine Umgestaltung eines Bereichs, der oder die Ihnen prägend in Erinnerung geblieben ist?
Im Juni 2020 wurde die überarbeitete Ausstellungssequenz zur deutschen Kolonialgeschichte zwischen 1880 und 1914 eröffnet. In der Vorbereitung habe ich mich besonders mit Fotografien, Foto- und Erinnerungsalben und auch Postkarten aus der Sammlung des DHM befasst. Die Auswahl des entsprechenden Bildmaterials für die neue Ausstellungssequenz, ihre Analyse und Kontextualisierung erforderten viel Zeit. Koloniale Bilder im Bestand des Museums angefertigt von Siedler*innen, Missionar*innen und ihren Angehörigen sowie Soldaten der „Kaiserlichen Schutztruppen“ dokumentieren neben dem Alltag vor allem auch, wie sich diese als Kolonisator*innen wahrnahmen und welche Perspektiven sie auf die Kolonisierten entwickelten. Diese Perspektiven sind zutiefst ambivalent, auch sexistisch und rassistisch. Die Bilder zeigen aber auch individuelle Annäherungen, eine Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte zwischen Kolonisator*innen und Kolonisierten, eine Beziehungsgeschichte, die immer asymmetrisch ist. Um diese Ambivalenzen weiter auszuleuchten, ist noch Forschungsarbeit nötig. Was mich freut ist, dass ich über die neue Ausstellungssequenz mit Museumsschaffenden, Forschenden und Studierenden ins Gespräch kam. Die Neugestaltung der Ausstellungssequenz kann insofern als Auftakt gelten für die weitere Beschäftigung und Diskussion zum Thema Kolonialismus und seiner musealen Repräsentation im Deutschen Historischen Museum.
Was ist für Sie die größte Überraschung im Zuge des Abbaus der Dauerausstellung?
Mit dem sukzessiven Abbau wurde auf einmal der Blick auf einzelne Exponate frei, manche standen oder hingen nun ganz für sich. Die Wirkmächtigkeit dieser Exponate entfaltete sich ganz anders als zuvor und erlaubte darüber eine neue, vertiefte und konzentrierte Art der Auseinandersetzung.
Außerdem machte der Umzug augenscheinlich, dass Museumsobjekte als Sammlungs- und Ausstellungsobjekte Zeit ihres Lebens mobile Objekte sind: Sie wechseln die Orte. Sie gelangen vom Herkunftsort über verschiedene Stationen ins Museum, ins Depot und dann wieder in eine Ausstellung und zurück. Sie lassen ihren Ursprungs- und Entstehungskontext hinter sich, erhalten in Ausstellungen neue Bedeutungen und Deutungen. Mit dem Abbau der Dauerausstellung und dem Transport in das Depot verlassen die Objekte nun auch den Deutungskontext der Dauerausstellung von 2006.
Bald ist das Zeughaus ein leerer Raum ohne Objekte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden hier Objekte unter unterschiedlichen ideologischen Prämissen und im Kontext verschiedener Geschichtsbilder präsentiert: im Preußischen Militärmuseum, dem Museum für Deutsche Geschichte der DDR und dann im Deutschen Historischen Museum. Ich denke, die besondere Geschichte dieses Hauses unterstreicht die Aufgabe insbesondere auch für die neue Ständige Ausstellung, die Konstruktion von historischen Narrativen für die Besucher*innen deutlich zu machen. Das heißt auch für uns als Kurator*innen mit besonderer Sorgfalt und Bedacht Objekte mit Aussagen über die Vergangenheit zu verknüpfen und sie beispielsweise auch im Kontext ihrer Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte im Zeughaus zu präsentieren.
Um eine Vorstellung von der Ausstellung zu erhalten: Wie viele Objekte befanden sich in der Ausstellung und wie war diese gegliedert?
Rund 6.000 Objekte waren auf zwei Etagen und circa 8.000 m² in der Ausstellung zu sehen.
Es handelte sich um einen klassischen chronologischen Rundgang, der die Besucher*innen die Geschichte vom Mittelalter bis zum Fall der Mauer 1989 entlang von neun Epochenbereichen präsentierte.
Gibt es etwas, was Sie auch in der neuen Ständigen Ausstellung konzeptionell aufgreifen oder weiterverfolgen möchten?
Es werden ganz neue Akzente gesetzt und ebenso wird sich die Struktur der Gesamtausstellung im Zeughaus deutlich verändern. So wird es beispielsweise neben einer chronologischen Darstellung Themenräume geben, die Grundfragen deutscher Geschichte in diachroner Perspektive behandeln. Auch ist ein eigener Kinder- und Familienbereich geplant. Mit einigen Objekten der nun abgebauten Dauerausstellung wird es sicherlich ein Wiedersehen geben. Welche dieser bisher gezeigten Objekte auch zukünftig zu sehen sein werden, wird sich allerdings erst im Laufe der weiteren Ausstellungskonzeption ergeben.
Titelbild: Drei Papiermaché-Puppen, Deutschland, um 1830/40, DHM Inv. Nrn.: AK 99/833, AK 95/313, AK 95/312 (von links nach rechts) © DHM/Hennecke