Jüdisches Leben und Alltag in Deutschland
3. November 2021
Das Deutsche Historische Museum nimmt das Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ zum Anlass, anhand seiner Sammlungen zu zeigen, dass jüdisches Leben in Deutschland eine lange und vielfältige Geschichte hat. Jüdische Kultur prägte den deutschen Alltag und tut dies bis heute. Ausgehend von je einem ausgewählten Objekt beschreiben drei Sammlungsleiter*innen des DHM Aspekte dieses jüdisch-deutschen Alltags vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
Julia Franke, Sammlungsleiterin Alltagskultur, geht der Bedeutung und Machart eines 245 Jahre alten „Tora-Wimpel“ auf den Grund, Wolfgang Cortjaens, Sammlungsleiter Angewandte Kunst und Grafik, beschäftigt sich anhand eines Kupferstichs nach Eduard Bendemann mit der Frage, in welcher Form jüdische Identität in der Kunst des 19. Jahrhunderts zum bildwürdigen Gegenstand wurde. Lili Reyels, Sammlungsleiterin Finanz- und Wirtschaftsgeschichte, zeigt in ihrem Beitrag, was wir durch die Münze „Jechiel“ über einen jüdischen Münzexperten im Dienste eines Bischofs erfahren können.
Gestickter Segen – Tora-Wimpel aus dem 18. Jahrhundert
Von Julia Franke
Wie empfängt eine Religionsgemeinschaft im 18. Jahrhundert die Neugeborenen in ihrer Gemeinde? Mit welchen Ritualen stifteten jüdische Gläubige der Aufklärung Verbindungen zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft der Gläubigen? Hinweise darauf geben die so genannten Tora-Wimpel (hebräisch Mappa, Pl. Mappot), die jüdische Familien nach der Geburt ihrer Söhne an die Synagoge übergaben. Das Deutsche Historische Museum erwarb 1989 auf einer Auktion zwei vollständig erhaltene Tora-Wimpel sowie die Fragmente zweier weiterer Wimpel.
Dieser Segensspruch begleitete einen Säugling 1776 ins Leben:
„Chaijim Sohn Me‘ir – möge er lange leben – geboren u.g.St. [unter einem guten Stern] am Montag, 9. Siwan 536 n[ach] d[der] k[leinen Zählung =27.5.1776] möge G[ott] ihn heranwachsen lassen mit der Tora und zur Chuppa und zu [guten] Taten.“
Gestickt wurde der Segen in hebräischen Buchstaben auf das Tuch, das den Jungen bei seiner Beschneidung umhüllte. Die aus Leinen gefertigte Windel aus dem Beschneidungsritual (Brit Mila) wurde dafür meist in vier Streifen geschnitten, umsäumt und an den kurzen Seiten der einzelnen Streifen zu einem schmalen Band zusammengefügt. Dieses Band wurde anschließend bemalt oder häufiger – wie im Fall der in den Sammlungen des DHM vorhandenen Exemplare – aufwendig mit Seidengarnen bestickt.
Der formelhafte Segensspruch war dabei auf jedem Tora-Wimpel der wesentlichste Bestandteil. Er folgte stets dem gleichen, traditionellen Aufbau: Er nannte den Jungen und seinen Vater beim Namen, sein Geburtsdatum nach dem jüdischen Kalender sowie Wünsche für das Kind, die an denen des Beschneidungsrituals angelehnt waren. Der Junge sollte die Tora studieren, heiraten und gute, wohltätige Taten vollbringen. Damit drückt die Inschrift die elterlichen Wünsche und Hoffnungen für ein glückliches Leben des Kindes gemäß den Traditionen der Gemeinde aus und spiegelt essentielle Werte jüdischer Familien Ende des 18. Jahrhunderts.
Bei seinem ersten Gang in die Synagoge im Alter zwischen ein bis drei Jahren nahm die Gemeinde das Kind dann mit einer speziellen Zeremonie in ihre Mitte auf. Gemeinsam stifteten Vater und Sohn der Gemeinde dabei den Tora-Wimpel, der um die gerollte Tora-Rolle gebunden wird. Der Wimpel umhüllte und schützte die auf beiden Stäben zur Mitte eingerollte Tora-Rolle, den wichtigsten und kostbarsten Gegenstand jeder jüdischen Gemeinde.
Interessant am eingangs zitierten Tora-Wimpel ist seine vielfältige Verzierung. Die Farben der verwendeten Garne wechseln bei den Konturen der einzelnen Buchstaben und den weiteren Ornamenten. Teilweise wurden Binnenzeichnungen in die Konturen eines Buchstabens eingefügt und diese z. B. mit Blütendarstellungen gefüllt. Neben Blumenranken sind ebenfalls Tiermotive abgebildet worden, deren Attribute das Leben des Jungen positiv beeinflussen und ihm analog zu den „Sprüchen der Väter“ der jüdischen Traditionsliteratur Stärke, Schnelligkeit und Kraft mit auf den Lebensweg geben sollen: „Sei kräftig wie der Leopard, geschwind wie der Adler, schnell wie ein Hirsch und stark wie der Löwe, den Willen deines Vaters, der im Himmel ist, zu erfüllen.“ „So ist der obere Teil eines Buchstabens beispielsweise als Leopard ausgebildet worden. Aus einem anderen Buchstaben erwachsen etwa eine Hirsch- sowie eine Vogeldarstellung, aus deren Schnabel wiederum eine Ranke erwächst. Die Tora, die als göttliche Offenbarung, als Wort Gottes gilt, ist ebenfalls abgebildet, genauso wie die Chuppa, der Hochzeitsbaldachin. Der Ausdruck „mit der Tora“ des Segensspruches ist dabei direkt in die kleine Abbildung der Tora selbst gestickt, der Ausdruck „zur Chuppa“ unterhalb des gestickten Traubaldachins. Oberhalb der Hauptzeile des Segens befinden sich weitere symbolische Motive wie Kronen.
Die Forschung geht heute davon aus, dass die Bänder sowohl von Familienmitgliedern als auch von professionellen Tora-Schreibern bestickt oder bemalt wurden. So wäre auch zu erklären, dass sich die Qualität der Ausführung sehr unterscheidet. Auch an den Objekten der Sammlung des DHM ist erkennbar, dass die Gestaltung der Bänder sowohl ungeübte wie gleichermaßen professionelle Sticker*innen übernommen hatten.
Die Segenssprüche der Tora-Wimpel werden von rechts nach links gelesen – und gestickt. So konnte es vorkommen, dass sich der/die Sticker*in mit der zur Verfügung stehenden Länge des Bandes verschätzt hatte und am Schluss deutlich engere Abstände zwischen den Buchstaben wählen musste, um den gesamten Segen unterzubringen. Auch beim vorliegenden Wimpel fehlt am Ende des Bandes ein Wort, das Adjektiv „gut“. Dass dies aber tatsächlich an einer falschen Einschätzung des zur Verfügung stehenden Platzes liegt, ist aufgrund der vorangehenden sorgsam angeordneten Buchstaben eher unwahrscheinlich. Grund dafür sind wahrscheinlich eher die vergangenen 245 Jahre Überlieferungsgeschichte, die hinter dem Chaijim Meʻir gewidmeten Wimpel liegen.
Das Stiften von Tora-Wimpeln aus der Beschneidungszeremonie begann im 16. Jahrhundert. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es ungebräuchlich und existiert heute kaum mehr. Vereinzelte Versuche, die Stiftungen von Wimpeln – nun auch für Mädchen – neu zu beleben, setzten sich nicht durch.
Romantisches Idyll oder Dialog der Konfessionen? Fragen an einen Nachstich von Eduard Bendemanns „Die zwei Mädchen am Brunnen“ (1833)
Von Wolfgang Cortjaens
„Der Taufzettel ist das Entrée Billet zur Europäischen Kultur“, so kommentierte Heinrich Heine 1830 gewohnt spöttisch die in seiner Epoche mit der Konversion vom Juden- zum Christentum verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten. Das Bonmot ist durchaus auf den in Berlin geborenen, jüdischstämmigen Historien- und Porträtmaler Eduard Bendemann (1811–1889) übertragbar. Er ist der Schöpfer der Vorlage dieses Kupferstichs, der Teil der Sammlungen des Deutschen Historischen Museums ist. Seine Eltern, der Bankier Anton Heinrich Bendemann (geb. als Aaron Hirsch Bendix, 1775–1866) und Fanny Eleonore Bendemann (1778–1857), eine Tochter des Bankiers Joel Samuel von Halle, waren vor der Geburt der Kinder zum Protestantismus konvertiert, die Kinder wurden christlich getauft und konfirmiert. Die mit der Konversion einhergehenden rechtlichen und ökonomischen Vorteile, vor allem aber sein Talent und seine guten Kontakte in die Berliner Künstlerkreise – Bendemann war Schwiegersohn des Bildhauers und Akademiedirektors Johann Gottfried Schadow – ebneten ihm den Weg an die Spitze: zunächst als Schüler Wilhelm Schadows an der damals international tonangebenden Düsseldorfer Kunstakademie, die er ab 1859 als Direktor leitete; dazwischen lehrte er 20 Jahre lang als Professor an der Dresdner Akademie.
Bendemanns Œuvre wird geradezu leitmotivisch von Bildthemen durchzogen, die Fragen jüdischer Identität verhandeln, am deutlichsten in monumentalen Historienbildern wie „Die trauernden Juden im Exil“ (1832, Köln, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud) sowie einem nicht realisierten Freskenzyklus im Dresdner Schloss. Das 1833 gemalte allegorische Idyll „Die zwei Mädchen am Brunnen“ (Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast) gehört, wenngleich nicht auf den ersten Blick erkennbar, in denselben Kontext. Ein Kupferstich dieses Motivs befindet sich in der über 80.000 Blätter umfassenden Grafiksammlung des Deutschen Historischen Museums. Dargestellt sind zwei aneinander geschmiegte junge Frauen – die eine dunkelhaarig, die andere blond – vor einer südlichen Küstenlandschaft. Formal führt der Maler darin die ikonografische Tradition des seit der Renaissance gepflegten allegorischen Freundschaftsbildes fort, das in der deutschen Malerei der Romantik mit programmatischen Werken wie Franz Pforrs „Maria und Sulamith“ (1815, Schweinfurt, Museum Georg Schäfer) und Friedrich Overbecks „Italia und Germania“ (1811–1828, München, BSGS, Neue Pinakothek) wiederauflebte.
Wie in diesen beiden heute ikonischen Gemälden stehen auch bei Bendemann die Figuren klar erkennbar für gegensätzliche Temperamente, Kulturlandschaften – und Religionszugehörigkeiten. So ist die dunkelhaarige Frau durch den mit kleinen Davidsternen bestickten Schleier als Jüdin identifiziert. Ihre ungezwungene Sitzhaltung und die offene, dem Betrachter zugekehrte Hand verleihen ihr optische Dominanz, die im Gemälde durch das Blutrot ihres Samtkleides noch stärker hervortritt als im monochromen Kupferstich. Ihre blonde Gefährtin dagegen ist in geschlossener Kompaktheit und mit sittsam gesenktem Blick dargestellt, die um den Kopf gelegte Flechte evoziert die altdeutsche Frisur des Gretchens im „Faust“. Sie hat die Hand auf die Schulter der Dunkelhaarigen gelegt, so als habe der Maler gestisch die typologische Auslegung des Judentums als Rezeptionsgrundlage und fixer Bestandteil des christlichen Kanons zum Ausdruck bringen wollen. Modell für die beiden Mädchen sollen die Schwestern des mit Bendemann befreundeten Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, Fanny Hensel und Rebecka Dirichlet, gestanden haben.
Die durch die in vollkommener Harmonie miteinander verschmelzende Zweiergruppe zum Ausdruck gebrachte enge Verbundenheit beider Religionen – evident auch im Symbol des Wassers – war nicht nur in der Biografie des Malers selbst angelegt, sondern zugleich im religionshistorischen Diskurs und in der Bibelexegese der Entstehungszeit des Gemäldes verankert. Erhärtet wird diese Lesart dadurch, dass Bendemann seine Werke mit jüdischer Thematik häufig mit Motiven der christlichen Ikonografie anreicherte. Die Bildfindung löst das Spannungsverhältnis allerdings nicht eindeutig auf, es bleibt vage bezüglich der intendierten Aussage. So überrascht es kaum, dass, anders als bei Bendemanns religiösen Historienbildern zu Themen jüdischer Emanzipation, der konfessionelle Aspekt bei der Rezeption der „Zwei Mädchen am Brunnen“ nie im Vordergrund stand. Als sentimentales Idyll erlangte das Gemälde im reproduktionswütigen 19. Jahrhundert durch Nachstiche große Popularität.
Den frühesten, hier gezeigten Stich schuf Heinrich Felsing 1833 direkt nach dem Originalgemälde, das man eigens zu diesem Zweck in sein Atelier transportierte, im Auftrag des „Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen“, der damals größten bürgerlichen Kunst-Institution in Preußen. Das sog. „Nietenblatt“ war die Jahresgabe des Vereins an seine Mitglieder, auch dies ein Ausdruck der hohen Wertschätzung Bendemanns und seiner Komposition. Das seither vielfach reproduzierte Gemälde ging als Ikone der romantischen Malerei in die deutsche Kunstgeschichte ein. Inwieweit es auch als Frucht der „erfolgreichen“ Assimilation eines jüdischen Künstlers gelesen werden kann, bliebe zu diskutieren.
Münzen als Zeugnisse deutsch-jüdischer Geschichte am Beispiel des Jechiel
Von Lili Reyels
Münzen waren seit dem frühen Mittelalter ein Medium des Austausches zwischen Jüd*innen und Christ*innen. Zur Alltagsgeschichte jüdischen Lebens in Deutschland gehörte es, dass einzelne Juden im Zusammenwirken mit christlichen Herrschaftsträgern als Finanzexperten oder als Münzmeister tätig waren.
Einen gewissen Aufschluss über diese Wechselwirkungen im lokalen Wirtschaftsleben kann der Pfennig mit der Aufschrift Jechiel (hebräisch) geben. Zwar existiert kein Schriftstück, welches das Verhältnis zwischen dem aufgrund des Münzrechts prägeberechtigen Herausgeber der Münzen – dem Münzherrn – und dem Leiter der Münzstätte – dem Münzmeister – genauer beschreibt. Dennoch ist die bischöfliche Münze ein anschauliches Beispiel für eine direkte Verbindung zwischen christlichem Münzherrn und jüdischem Münzmeister auf einem Objekt: Auf der Vorderseite ist ein mitriertes Brustbild des Prägeherrn Bischof Otto von Würzburg (1207-1233) zu sehen. Die beiden Attribute des Bischofs, Schwert und Kreuzstab, symbolisieren die weltliche und geistliche Macht in seinen Händen. Die Rückseite der Münze zeigt drei Türme. Vermutlich handelt es sich um eine stilisierte Stadt- oder Kirchendarstellung. Darunter steht der hebräisch geschriebene Name des Münzmeisters: Jechiel.
Jechiel bar Shmuek – in Würzburg findet sich sein Grab – wird in mittelalterlichen Quellen die Leitung der Münzstätte zwischen 1207 (dem ersten Jahr von Ottos Regentschaft) und dem Jahr 1210 (Jechiels Tod) zugeschrieben. Otto I. von Lobdeburg war im Juli/August 1207 zum Bischof von Würzburg gewählt worden. Sein repräsentatives Auftreten und sein politisches Engagement als Reichsfürst scheinen den Haushalt des Hochstifts belastet zu haben, die genaue Auswirkung auf die Münzprägungen durch Jechiel ist jedoch nicht belegt. Tatsache ist, dass es für den deutschen Raum im Hochmittelalter nur wenig Münzzeugnisse von der Art des Jechiel gibt. Es ist davon auszugehen, dass der jüdische Münzexperte, da auf den Münzen explizit erwähnt, eine relativ einflussreiche Zeitfigur war.
Unsere Quellenlage ist gering. Welche Botschaft wollte der Bischof durch das Gepräge über sich, seine Herrschaft und seine Beziehung zum jüdischen Münzmeister in Umlauf bringen? Wir können nur vermuten, dass die Münzproduktion des Jechiel nicht nur eine wirtschaftliche Funktion besaß, sondern auch als politisches Instrument die Herrschaft des Münzherrn unterstützte. Möglich, dass die Namensnennung des jüdischen Münzmeisters den Standort Würzburg wirtschaftlich noch attraktiver machen sollte. Durch die Verbindung mit dem jüdischen Münzmeister wurde die Werthaltigkeit der ausgegebenen Münze noch unterstrichen.
Literatur
Haverkamp, Eva: Jewish Images on Christian Coins: Economy and Symbolism in medieval Germany, in: Philippe Buc, Martha Keil, John Tolan (Hg.): Jews and Christians in Medieval Europe. The Historiographical Legacy of Bernhard Blumenkranz, 2015.
Leschhorn, Wolfgang: Mittelalterliche Münzen, Bd. 2, Braunschweig 2015.
Ruß, Hubert: Die mittelalterlichen Münzen des Hochstiftes Würzburg. Münzgeschichte und Katalog der Prägungen von ca. 900 bis 1495, München 2021.