Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 in privaten Fotoalben
Friedrich Tietjen | 16. Dezember 2021
Seit dem Sommer 2020 erforscht das Projekt „Biografie und Geschichte. Private Fotografie in Ostdeutschland 1980-2000“ der Stiftung Reinbeckhallen in Kooperation mit dem DHM, wer, wie und warum in diesen zwei Dekaden in Ostdeutschland vornehmlich für den Eigenbedarf fotografiert hat. Im Verlauf des von der Bundestiftung Aufarbeitung geförderten Projektes wurden Dutzende von Interviews geführt und hunderte von Alben durchgeschaut. Der Fotohistoriker Friedrich Tietjen skizziert einige der Fragestellungen und Ergebnisse des Projektes.
„Dann waren wir im Sommer zwei Wochen in Sowjetunion, Urlaub machen bei Olya und Sergei, und wir kommen wieder, und die Leute stehen in Prag in der Botschaft und wollen raus aus diesem Land. Und wir dachten, oh Gott, was ist los … und trotzdem wurde weitergefeiert.“
Die Paradoxie, die Frau G. im Gespräch mit uns im Sommer 2020 so beiläufig formulierte, durchzieht auch das Album, durch das sie während ihrer Erzählung blätterte – auf den Seiten sind Bilder aus dem Urlaub 1989 montiert, von fröhlichen Gartenfesten, Fahrradtouren, Besuchen von und bei Verwandten. Dass zur gleichen Zeit erst die Grenze fiel und dann die DDR in einer langen Agonie unterging, lässt sich an kaum mehr als an Details und einzelnen Bildern dazwischen erkennen – zwei Frauen, die gemeinsam die Zeitschrift Sputnik lesen, einer eingeklebten Zigarettenwerbung, den Automarken am Straßenrand beim ersten Ausflug nach Westberlin und einem zwischen zwei Bäumen über die Straße gespannten Transparent: „Kohlhasenbruck grüßt die Nachbarn aus Babelsberg“.
Es erstaunt, wie wenig die historischen Ereignisse von 1989/90 in Frau G.s Alben sichtbar werden – und doch vergleichsweise viel. In vielen anderen Bildbeständen hinterließen die dramatischen Veränderungen noch weniger Spuren, obwohl sie so nah, gegenwärtig und einschneidend waren. Die Bilder von den Demonstrationen in den großen Städten, den fröhlich Feiernden auf der Berliner Mauer, den Mauerspechten, später den am Straßenrand entsorgten Trabis, den zerfallenden Industriebauten und den in Brand gesteckten Wohnheimen für Vertragsarbeiter*innen in Rostock und anderswo: Sie sind ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen und stehen für die historische Zäsur von 1989/90 und ihre bis heute andauernden Folgen. Doch die Bildproduktionen für den privaten Gebrauch orientierten sich ganz offenbar an anderen Motiven.
Hinweise auf diesen eher allmählichen Wandel fanden wir nicht nur in dem, was die fotografischen Bilder selbst zeigten, sondern sie schlugen sich auch in den fotografischen Praktiken im weiteren Sinne nieder. Ein ehemaliger Tierpfleger beim Staatszirkus erzählte uns, wie er sich bei einer Tournee Mitte der 1980er Jahre in Japan eine Kompaktkamera kaufen konnte, die einige Features hatte, die keine Kamera aus DDR-Produktion zu bieten hatte. Mehrere Gesprächspartner erklärten uns, warum Musikzeitschriften aus Westdeutschland abfotografiert und die Abzüge unter der Hand in Schulen und auf kleinen Schwarzmärkten vertrieben wurden, und in einigen Fällen gab es einen regen Austausch von Aufnahmen von Verwandten zwischen West- und Ostdeutschland. Und statt – wie das Klischee es nahelegt – nach dem Fall der Mauer sofort nach London, Paris oder Mallorca zu fahren, verbrachten manche Familien ihren Urlaub weiter an der Ostsee oder der Schwarzmeerküste, organisierten Amateure ihren Fotoclub neu, nachdem der alte mit ihrem Betrieb untergegangen war, der ihn vorher getragen hatte, und in einigen Gesprächen wurden uns Formen halbprivater Medien vorgelegt, die es in Westdeutschland ähnlich kaum gegeben hat und die von Einzelpersonen sorgsam archiviert worden waren – Brigadebücher etwa, Wandzeitungen aus Plattenbauten und gemeinsam von einem Schulelternaktiv angelegte Klassenalben, die über mehrere Jahre reichten.
Es sind vor allem diese Albengespräche, die an der privaten Fotografie in Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 das freilegen, was über die Bilder selbst hinausreicht. In ihnen erscheint die private Fotografie als eine Praxis, die soziale und biografische Zusammenhänge herstellt und stabilisiert. Die mitgenommene Kamera konnte dafür sorgen, dass es bei einem Spaziergang zu bildwürdigen Momenten kam – und sei‘s bloß, dass man sich gemeinsam an ein Geländer stellte oder der Schwan ans Ufer geschwommen kam. Im Album konnte der Spaziergang zu einer Erzählung formuliert werden; die wiederholte gemeinsame Betrachtung des Albums (oder auch der Dia-Abend) führte dazu, dass diese Erzählung sich verfestigte und tradiert werden konnte. Ob die Bilder kompositorisch originell waren oder unscharf und verwackelt, war dafür eher nebensächlich – ihren Weg in die Alben oder Bilderkisten konnten sie auch finden, wenn ihre ästhetischen Qualitäten für Außenstehende wenig beeindruckend erschienen. Entscheidend dafür war allein, ob und welche Bilder Teil welcher Praktiken werden konnten und sollten.
Die Bildmotive der privaten Fotografie in Ostdeutschland zwischen 1980 und 2000 mögen dabei oft stereotyp erscheinen (ebenso übrigens wie die Bilder aus dem gleichen Zeitraum aus der westlichen Landeshälfte), doch die mit ihnen verbundenen Praktiken waren es nicht. In unseren Gesprächen haben wir mit Personen gesprochen, die weit mehr als 100 Alben mit ihren Bildern gefüllt haben; andere hatten in der gleichen Zeit vielleicht zwei, drei Dutzend Filme fotografiert. Wir sahen Alben, die mit Sorgfalt zusammengestellt und eigens von einem Buchbinder produziert worden waren; andere Gesprächspartner*innen zeigten uns vorgefertigte Klebealben oder hatten die Bilder albenlos in einer Kiste sortiert. Oft waren die Alben das Ergebnis komplexer Kollaborationen – in manchen Fällen gab es klare Trennlinien zwischen Bild- und Albenproduktionen, während bei anderen beides in einer Hand lag, und bei wieder anderen Alben die Bilder aus vielen verschiedenen Quellen stammten. Bei nicht wenigen unserer Gesprächspartner*innen war die Albenproduktion eine Beschäftigung für Winterwochenenden; bei anderen wurden die Alben sukzessive angelegt, sobald die Bilder verfügbar waren. Alben konnten chronologisch angelegt werden oder thematisch geordnet werden, und gar nicht so selten gibt es Alben, die unmittelbar nach der Geburt eines Kindes begonnen wurden und die vielen kleinen Schritte des Aufwachsens minutiös begleiteten – wenige Familien machten sich allerdings dieselbe Mühe auch für das zweite oder gar das dritte Kind. Manche Alben werden bis heute immer wieder überarbeitet, auseinandergenommen, neu arrangiert; fertig gestellt waren andere Alben in den Schrank gestellt worden, und erst unser Projekt war Anlass gewesen, sie dort herauszuholen und wieder anzuschauen.
Im Laufe des Projektes haben wir hunderte von Alben durchschauen können und tausende von Bildern gesehen. Das mag viel erscheinen und ist doch nur ein winziger Bruchteil der privatfotografischen Bilder, die während dieser zwei Dekaden aufgenommen, in Alben arrangiert und angesehen wurden. Überdies fehlen unter unseren Gesprächspartner*innen ganze Bevölkerungsgruppen, die ebenfalls in Ostdeutschland fotografiert haben – wir haben beispielsweise nicht mit ehemaligen Vertragsarbeiter*innen gesprochen, nicht mit Personen, die zu den sogenannten Wendeverlierer*innen gehören, nicht mit Angehörigen der Nomenklatura oder des Ministeriums für Staatssicherheit. Unser Projekt ist so vor allem ein Anfang, den wir und andere mit neuen Fragen und Überlegungen weiterführen können – nicht zuletzt anhand der Schenkungen, die wir im Verlauf des Projektes entgegennehmen konnten und an das DHM übergeben. Und die weitere Auswertung der Alben und Gespräche hat bereits begonnen – die Forschungsausstellung „… irgendwer hat immer fotografiert …“ der Stiftung Reinbeckhallen lädt ein, sich mit den Ergebnissen des Projektes auseinanderzusetzen. Die Arbeit wurde von zwei Seminaren an der Humboldt-Universität begleitet, deren Teilnehmer*innen ein Glossar herausgaben.