Herlinde Koelbl. Angela Merkel Portraits 1991 – 2021
Prof. Dr. Gesine Schwan | 2. Mai 2022
Auf unserem Blog veröffentlichen wir die Rede von Prof. Dr. Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, die sie bei der Eröffnung der Ausstellung „Herlinde Koelbl. Angela Merkel Portraits 1991 – 2021“ am 28. April 2022 hielt.
„Spuren der Macht“ heißt das Projekt, innerhalb dessen Herlinde Koelbl Angela Merkel in 30 aufeinander folgenden Jahren fotografiert, aber auch interviewt hat. In einem geradezu laborreinen Arrangement, will sie herausfinden, ob und wenn ja, welche Spuren der Macht sich auf den Fotografien, vornehmlich wohl in Angela Merkels Gesicht erkennen lassen.
Welche Spuren könnte man denn erwarten? Dass sie hochmütig wird? Dass die Macht sie verhärtet? Dass ihre Bürde sie ermüdet, niederdrückt oder enttäuscht? Dass sie die Macht einfach genießt? Es gibt viele Möglichkeiten.
Auf Herlinde Koelbls Frage, was für Angela Merkel lustvoll an der Macht war, antwortet sie: „Früher hätte ich gesagt: dass man Politik gestalten kann. Jetzt würde ich sagen: dass man anderen wieder etwas abjagt.“ Zum Beispiel einige Jahre später Gerhard Schröder das Kanzleramt, das zu führen, er ihr nicht zugetraut hatte. So kann man sich irren.
Ihre Antwort hat etwas Spielerisches, was Angela Merkel in der Regel nicht öffentlich ausstrahlt. Privat offenbar schon, berichten ihre Freunde. Dicht dran an einem heiteren Machtverständnis ist auch ihre für mich überraschende Aussage als CDU-Generalsekretärin: „Ich möchte der Partei auch ein bisschen Fröhlichkeit vermitteln.“ Ich werde den Tipp an Kevin Kühnert weitergeben.
Angela Merkel wird in der Regel als sehr souveräne, nicht kleinzukriegende, vor allem „unaufgeregte“ Frau beschrieben. Die unzähligen Gemeinheiten des Politikbetriebs tangieren sie nicht – so scheint es. Aber im Gespräch mit Herlinde Koelbl hat sie doch Angst, dass das Amt sie demolieren könnte und „dass am Ende der Hohn der Gesellschaft größer ist, als wenn ich gar nichts getan hätte.“
Einige Jahre später hat sie eher noch weniger Vertrauen zu den Menschen: „Ich bin misstrauischer geworden. Früher war ich zwar auch schon misstrauisch, aber das hat bei Weitem nicht ausgereicht, um im politischen Geschäft nicht ständig enttäuscht zu werden.“ Sie ist oder war zumindest wohl verletzlicher, als sie nach außen erkennen lassen wollte.
Und sie schützt sich bewusst durch Verstellung und Verschlossenheit, was ihr eigentlich missfällt: „Ich kann heute starr nach außen gucken und nicht jedem zeigen, was ich gerade denke“. Die Menschen wollten Sorgen oder Unsicherheit bei Politikern nicht sehen. „Ich werde das in Zukunft auch nicht mehr zugeben, damit ich nicht pausenlos in der Zeitung nachlesen muss, ich würde mein Fach nicht beherrschen. Ich finde es bedauerlich, dass bei Politikern eher das schablonenhafte Produkt gefragt zu sein scheint.“
Angela Merkel möchte authentisch sein, aber um die Macht zu erwerben und sie zu erhalten, muss sie sich, das ist ihre Erfahrung, verstellen und verschließen.
In ihrer Kleidung und äußeren Erscheinung widersteht sie dem Erwartungsdruck von außen lange. Darüber haben westdeutsche Damen der Gesellschaft zunächst oft gespottet, haben sie auch vor ihrer Kanzlerschaft, wie es hieß, eindringlich beraten. Ich meine, das Ergebnis der Anpassungs-Konzession an die Macht kann man auf dem ersten Kanzlerinnenbild 2006 deutlich erkennen: Hier findet sich in der langen Reihe der Portraits der einzige klar erkennbare Unterschied zu allen Fotografien davor. Angela Merkel hat sich dem Mainstream im äußeren Erscheinungsbild angepasst, vornehmlich durch Wimperntusche, Lidstrich und eine gestylte Frisur. Sie wirkt dadurch unnahbarer und weniger originell als vorher.
Politische Macht schafft offenbar keineswegs vor allem Lust, nach der Herlinde Koelbl am Anfang gefragt hat, auch wenn man immer wieder gelobt und mit Preisen ausgezeichnet wird. Im Gegenteil: Sie bedroht die eigene persönliche Authentizität und Integrität. Man muss falsche Erwartungen erfüllen und vor allem Enttäuschungen abwehren. Das ist ein auffälliges Leitmotiv bei Angela Merkel. Wenn man nach Spuren der Macht sucht, dann findet man sie vielleicht in einer zunehmenden Desillusionierung über die Menschen, mit denen und für die sie Politik macht.
Dabei können viele Beobachter eigentlich keine Veränderungen Merkels in der Fotofolge erkennen. „Dreißig Jahre lang ist ihr Gesichtsausdruck gleich“, sagt George Packer, der sie in dem großen Bildband beschreibt. Und weiter: „Diese emotionale Gleichförmigkeit könnte der Schlüssel zu Merkels phänomenalem Erfolg als Politikerin sein. Die Porträts aus drei Jahrzehnten zeugen von Merkels Stehvermögen am Steuer des öffentlichen Lebens.“ „Emotionale Gleichförmigkeit“ als Schlüssel zum politischen Erfolg?
Nach dieser Einschätzung gäbe es keine Spuren der Macht, weil Merkel ihre Gefühle ausschaltet. Wenn man aber genau auf ihre Mundwinkel schaut, entdeckt man doch eine leichte Entwicklung. Sie ist zwar gut geschminkt. Aber – auch vor dem Hintergrund anderer zeitgenössischer und aktueller Fotografien – zeigt sich doch eine Veränderung in einer verstärkten Ausrichtung der Mundwinkel nach unten. Darin sehe ich Enttäuschung und Distanzierung von den Menschen als Spuren der Macht.
Sie kontrastieren mit den eher offenen, zuweilen auch schalkhaften Gesichtern des Anfangs und mit der unverstellten Art, mit der sie in den Anfangsjahren ihrer Politik Herlinde Koelbl antwortet. In dieser eher authentischen Zeit finden sich in ihrem Gesicht überdies verträumte, vielleicht sogar melancholische Züge. Melancholie und Fröhlichkeit schließen einander ja nicht aus. Daher kommt vielleicht, dass sie auf viele Menschen eher traurig wirkt. Das mag sie nicht, und das versteht sie nicht.
Zugleich gibt es in dieser noch offeneren authentischeren Phase aber schon das Misstrauen, das Angela Merkel als eigenen Zug von Anfang an betont und das sie zum Selbstschutz bewusst verstärkt. In der Politik macht sie früh die Erfahrung, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen kann. Der Gedanke legt sich nahe, dass sich das auf ihr gesamtes Politikverständnis, auch auf die Handhabung ihrer Macht ausgewirkt hat. Nicht nur die naturwissenschaftlich-analytische Methode, die Probleme in ihre Einzelteile zu zerlegen und dann Schritt für Schritt (Einzel-) Lösungen zu suchen, haben sie nach meinem Eindruck geprägt. Prinzipielle Vorsicht, Skepsis gegenüber dem großen Zukunftsentwurf, der ihr wohl zu viel Überschwang enthält, spielen auch eine zentrale Rolle. Sie sind nicht enttäuschungsfest.
„Ich bewege mich ja in der Ist-Zeit und löse Probleme, und ich denke sozusagen nicht jeden Tag an die Nach-Zeit-Betrachtung – das müssen dann die Historiker tun.“ Und hier geht es nicht in erster Linie um Nachruhm, sondern um die historische Langzeitdimension von Politik.
Ohne Vertrauen in die Natur des Menschen – trotz aller Widrigkeiten des politischen Geschäfts – bringt man den Mut für eine Politik langfristiger Verbesserungen für die Menschen wohl nicht auf. Ohne seinen Hoffnungs- und Utopie-Überschuss hätte Willy Brandt seine Politik der Versöhnung und Verständigung mit den Menschen in Mittelosteuropa, auch in Russland nicht angehen können. Die hohe Intelligenz und die betonte Nüchternheit Helmut Schmidts allein hätten das nicht zu Wege gebracht.
Christopher Clark und Kristine Spohr schließen ihre Nachbetrachtung mit dem Fazit, dass wir Angela Merkel als „eine Politikerin in Erinnerung behalten, die der Welt zeigte, wie man ohne jede Eitelkeit Macht ausüben kann“. Dieser Mangel an Eitelkeit fasziniert viele Beobachter und verschafft ihr und damit auch ihrer Politik hohe Anerkennung. Dass sie das Machogehabe ihrer Kollegen Sarkozy, Berlusconi und auch Gerhard Schröder als lächerlich durchschaut hat, war ein wichtiges Element ihrer eigenen Macht und ruft bei mir als Frau nicht so große Bewunderung hervor. So viel „female chauvinism“ muss schon sein.
Dass ihr banale Eitelkeit fremd war, belegt ihre Klugheit und die Tatsache, dass sie jedenfalls Macht über sich selbst hat. Eitelkeit ist ja die Schwester der Lächerlichkeit. Diesem Risiko wollte sie sich nicht aussetzen. Aber genügt der dahinterliegende Maßstab meist männlicher Schwäche für die Beurteilung von politischer Machtausübung?
Clark und Spohr nennen einen weiteren Beleg für die Weisheit von Merkels Politik, die aus ihrer zuvor genannten Skepsis rührt: „Und sie hat stets die Anfälligkeit und Vergänglichkeit jener Dinge erkannt, die angeblich überaus robust sind: der Westen als Wertegemeinschaft, liberale Demokratie, die Institutionen, die eine verantwortliche Regierung stützen, also Parlamente, freie Wahlen, unabhängige Richter, freie Universitäten und Rechtsstaatlichkeit. Als jemand, der den plötzlichen Zusammenbruch eines Regimes und einer Ideologie erlebte, die als ständige Fixpunkte in der Weltpolitik erschienen, weiß sie, wovon sie redet.“
Ist die Einsicht in die „Vergänglichkeit“ der Demokratie, so wie die DDR vergänglich war, ein Zeichen politischer Weisheit? Ich weiß nicht, ob Angela Merkel diese Analogie gefällt. Für die Demokratie böte das keine guten Aussichten. Denn wenn wir an deren Werte nicht mehr glauben, sondern sie von der Skepsis anfressen lassen, hat sie keine Chance. Die entschieden auftretenden autokratischen Regime wären dann klar im Vorteil.
Angela Merkel hat viele Gipfel der politischen Macht bezwungen und dabei ihre persönliche Integrität gewahrt. Das ist eine bewundernswerte Leistung. Die banalen entwürdigenden Gefährdungen der Macht haben sie nicht verführt und bei ihr auch keine Spuren hinterlassen. Aber vielleicht braucht die Demokratie den Mut, Skepsis und Misstrauen zu überwinden, vielleicht braucht sie die Bereitschaft zum Risiko, sich enttäuschen zu lassen und doch weiterzumachen.
Bild: © DHM/Mathias Völzke