Wozu das denn? Ein Adresszettel aus Paris
Katja Pinzer-Hennig | 18. Mai 2022
Es ist ein kleiner Zettel aus dem Bestand der Richard-Wagner-Stätten Graupa, der Auskunft über Richard Wagners Reisen und seine Pariser Zeit gibt. Kustodin Katja Pinzer-Hennig berichtet über die scheinbar unscheinbare Leihgabe, die in der Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“ zu sehen ist.
Nein, es soll an dieser Stelle nicht um die Finanzen Wagners gehen, auch wenn es bei ihm immer wieder ums liebe Geld ging — im Ring des Nibelungen, in diversen Schriften sowie in seinem privaten und schöpferischen Leben. Die Frage ist: War Richard Wagner Millionär an Reisekilometern in einer Zeit, als Menschen für gewöhnlich ihre Heimat kaum verließen? In einer Zeit, als das Reisen zu Fuß, Pferd oder per Kutsche beschwerlich und langwierig war?
Ob es tatsächlich Millionen Kilometer waren, sei dahingestellt. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Wagner ein Vielreisender war. Bekannt ist, dass der Komponist zwischen 1839 und 1862 mindestens zehn Mal in Paris weilte. An verschiedenen Gebäuden der Stadt verweisen Gedenktafeln auf seine Anwesenheit. Auskunft über einen Aufenthaltsort Wagners und seinen Aufenthalt in Paris gibt ein kleiner Zettel aus dem Bestand der Richard-Wagner-Stätten Graupa. Er ist gerade mal 3,3 x 8,2 cm groß. Auf dem Zettel steht: R. Wagner. rue de Provence, 59 (cité d’Antin). Der undatierte Zettel nennt eine Pariser Adresse, verrät jedoch nicht, welchem der Aufenthalte er zuzuordnen ist — ob es sich um eine Wohnanschrift handelt oder um den Absender, ob Wagner selbst ihn geschrieben hat oder ein*e Unbekannte*r. Die Rue de Provence im Quartier de la Chaussée-d’Antin gibt es noch heute. Dort gibt es aber keinen Hinweis auf Wagner.
Mehr Aufschluss gaben die Briefe Wagners und eine kurze Notiz in seiner Autobiografie: Auf der Suche nach einer „geräuschlos gelegenen Wohnung“ fand er „in der Cité de Provence eine Stube mit Kammer“. In „Sämtliche Briefe Richard Wagners“ Band 3 findet sich in einem der ersten Briefe, die Wagner aus Paris an seine Frau schrieb, der Hinweis: „Endlich heute … habe ich ein anderes Logis gemiethet, in einer Cité (Cité d’Antin) in 4ten Stock – 65 fr!!…“
In zehn der 17 Briefe, die Wagner vom 2. Februar bis zum 13. März 1850 aus Paris verschickte, taucht der Absender Rue de Provence auf. Einer der Briefe – allerdings ohne Straßenangabe — ist an den Maler, Freund und „Hungergefährten“ des ersten Paris-Aufenthaltes (1839-42), Ernst Benedict Kietz, geschrieben: „Daß Du heute zur Truffaut kommst! Das rathe ich Dir. Ich brauche das Buch von Lohengrin wieder: bring‘ es mir.“
Daraus lässt sich durchaus schlüssig begründen, wie und warum das Adress-Schnippselchen nach Graupa gekommen sein könnte, dem Ort, wo Wagners Oper „Lohengrin“ musikalisch Gestalt annahm. Auf der Rückseite des Zettels nämlich steht handschriftlich: „gestiftet von Herrn Prof. Dr. Kietz. Dresden“. Jener Dr. Kietz ist der jüngere Bruder des oben genannten Malers Ernst Benedict Kietz. Der Bildhauer Gustav Adolph lernte den Komponisten über seinen Bruder kennen. Er besuchte die Wagners während ihrer Sommerfrische 1846 in Graupa und beschrieb später deren Quartier in einem Erinnerungsbuch. Im Jahr der ersten Bayreuther Lohengrin-Aufführung ließ er am Haus eine Gedenktafel zur Erinnerung an den verehrten Meister anbringen und wurde 1907 zum Mitbegründer des Vereins zur Erhaltung des späteren Lohengrinhauses. Für die im selben Jahr dort eingerichteten Wagner-Gedenkräume stiftete er einige Objekte, darunter auch der Adress-Zettel.
Wer weiß es schon zu sagen? Aber es könnte doch sein, dass dieser kleine Zettel zum Brief Richard Wagners an Ernst Benedict Kietz vom 13. Februar 1850 gehört. Es könnte aber auch sein, dass Wagner dem Freund die Adresse auf dem Zettel vermerkte und über einen Dritten zukommen ließ. Wie dem auch sei: Mit anderen Erinnerungsstücken blieb der kleine Zettelerhalten und wurde für so bedeutungsvoll erachtet, es aufzubewahren und schließlich nach Graupa zu geben.
Es ist kein sensationelles Objekt, das ins Auge fällt und zu Begeisterungsstürmen herausfordert. Und sicher gibt es Exponate im heutigen Wagnermuseum in Graupa, die einen größeren Eindruck hinterlassen. Doch vermittelt es das Wissen über einen Wagner-Ort und über die Reisetätigkeit des Komponisten. Es erzählt Geschichte(n), die zu erschließen, durchaus interessant ist/sind. Man muss sie entdecken wollen, dann erschließen sich im Kleinen größere Zusammenhänge.
Katja Pinzer-HennigKatja Pinzer-Hennig, diplomierte Kulturwissenschaftlerin, arbeitete zeitlebens an verschiedenen sächsischen Museen, so als Museumspädagogin an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und seit 1993 als wissenschaftliche Mitarbeiterin auf Schloss Weesenstein und der Albrechtsburg Meißen. |