Gewalt und Opferung bei Wagner

Adam J. Sacks | 15. Juni 2022

In Richard Wagners Werk ist Gewalt oft ein Thema, ebenso wie die Aufopferung von Frauen im Dienste der „Widergeburt“ der männlichen Protagonisten. Ausgehend von der Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“ beschäftigt sich der Historiker Adam Sacks damit.

„Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein“ – diese epochale, 1940 von Walter Benjamin getroffene Feststellung besitzt zweifellos auch in Hinblick auf Wagner Gültigkeit. Zugleich lässt sie sich aus heutiger Perspektive im Rückgriff auf das dekoloniale Denken erweitern und aktualisieren. Kognitive, ästhetische und technologische Revolutionen fanden nicht einfach parallel zu Imperialismus, militärischer Invasion und Versklavung statt, vielmehr waren sie ein Resultat davon. Unzählige Meisterwerke der europäischen Kunst des 19. Jahrhunderts sind durchdrungen von der Gewalt des imperialistischen Zeitalters; Beispiele hierfür sind etwa Verdi und der Suezkanal, das Algerien von Delacroix, das Turkestan von Wereschtschagin oder Austens „Überredung“ und „Mansfield Park“. Doch Wagner ist einer von wenigen Künstler*innen, die in ihren programmatischen Äußerungen und ihrem künstlerischen Schaffen Gewalt tatsächlich inszeniert und affirmiert haben.

Selbst wenn man Wagners explizite und vielfache Unterstützung des seinerzeit virulenten Nationalismus und Rassismus ausklammert, entfalten seine dramatischen Mittel und künstlerischen Formen in ihrer Vehemenz bereits für sich genommen eine gewisse Gewalt. Unter den bedeutenden europäischen Künstler*innen dürfte er der einzige sein, der auf einer einzigen Seite eines Aufsatzes fünfmal den Begriff „Vernichtung“ verwendete und an anderer Stelle „ungeheuer viel Lust, etwas künstlerischen Terrorismus auszuüben“, bekannte. Daneben dürfte auch die akustische Redundanz der musikalischen Leitmotiv-Struktur bei den Zuhörenden eine unerbittliche Wirkung entfalten. Bei Wagner zeigt sich, was Isaiah Berlin einst als „übermäßige stilistische und gedankliche Gewaltsamkeiten“ bezeichnete.

Die Gewalt bei Wagner deckt sich mit den deutschen Nationalstaats- und Weltreichbestrebungen im 19. Jahrhundert, die im deutschen Fall auf einzigartige Weise verdichtet und synchron verliefen. Angesichts der deutschen Verspätung richtete sich der Verschmelzungsprozess der imperialisierenden Gewalt zunächst nach innen auf die Nation selbst. Wagner ließ keinen Zweifel daran, dass er dieses Projekt aus vollem Herzen unterstützte. Wagners eigenes Festspielhaus in Bayreuth sowie sein zugehöriges Wohnhaus waren einerseits Teil des industriellen Baubooms der Gründerzeit, andererseits ähnelt der Theaterbau einem Fort an der Grenze zwischen dem katholischen und dem evangelischen Deutschland, als Plantagenhaus einer musikalischen Siedlerkolonie, die ein akustisches Reich errichtete. Auf der Bühne selbst, im „Ring“, wirkt Walhall unter dem Mantel erweiterter Besitzrechte als eine Art dramatisierter Stellvertreter dieser Funktion des Festungsgebäudes. Explizit als „Fremde“ gekennzeichnete Arbeiter (ob nun „Riesen“ oder „Zwerge“), die den Bau ausführen, fallen wiederholt gewaltsamen Wirren zum Opfer.

Wagner verwendete die Begriffe Gewalt und Theater oft als einander korrespondierendes Paar. Die Heroisierung des Ritters / Kriegers / Eroberers kommt in Variationen in so gut wie jeder Oper von ihm vor. Seine Abhandlung „Deutsche Kunst und Deutsche Politik“ von 1868 verfasste er ausdrücklich als Reaktion auf ein vermeintliches Marktdefizit der deutschen kulturellen Macht im Vergleich zur französischen. Seine Kommentare und kritischen Anmerkungen zu Kolleg*innen und Mentor*innen in der Abhandlung lassen sich (insbesondere in Verbindung mit seinem persönlichen Verhalten) kaum als anders denn als gewalttätig bezeichnen. Insofern überrascht es kaum, dass Wagner in seinem Text als Metapher für die Theaterindustrie auf das staatlich sanktionierte System des Sklavenmarkts rekurriert, das der Nationalstaats- und Weltreichbildung seiner Zeit zugrunde lag.

Für eine umfassende Einschätzung von Wagners Platz in der Kulturgeschichte der Gewalt darf man den Blick nicht nur auf die Gewaltsamkeit von Ton und Vorgehen richten, sondern muss auch die Rolle der Gewalt in den von ihm ausgewählten Geschichten bedenken. Selbstverständlich nimmt der Mord als zugleich omnipräsente wie leidenschaftliche archetypische Form der Gewalt einen festen Platz im Opernrepertoire ein. Doch allein Wagner räumt einer spezifischen Urform menschlicher Gewalt einen prominenten Stellenwert ein, der männlichen Jagd auf andere Lebewesen zu ihrer Tötung. Der Mann als Jäger ist eine Konstante seines Schaffens, etwa in den Jagdgesellschaften im „Tannhäuser“ und in „Tristan und Isolde“ oder in der Erziehung der Heldenfiguren Siegmund und Parsifal zu Jägern und ihrer Einführung in Jagdszenen. Die Jagd ist eine ursprünglichere Form der Gewalt als die aus sozialen Konflikten resultierenden körperlichen Übergriffe und Morde, die anderswo in Europa auf der Bühne zu sehen waren. Durch die bei Wagner allgegenwärtige Jagd wird Gewalt naturalisiert, indem sie als instinktiv und unvermeidlich dargestellt wird.

Noch irritierender ist jedoch Wagners fortgesetzter Rückgriff auf eine weit stärker ritualisierte und stilisierte Form von Gewalt, und zwar das Menschenopfer, das einen Grundpfeiler seiner Dramen darstellt. Indessen sich die Gewalt der Jagd als leidenschaftliche Naturkraft ins Unbekannte und gegen das Fremde richtet, ist das Opfern eines Menschen ein intimer und methodischer Vorgang, eine Stellvertreterform von Gewalt, um den Übergang von der „niederen“ Natur zur „höheren“ Kultur zu erzwingen und abzukürzen. Kurz gesagt verkörpert das Opfern eine transformatorische Gewalt zur Überwindung einer vorangegangenen Unordnung und Errichtung einer neuen Ordnung. Paradoxerweise hat geschichtlich die Gewalt des Opferns zunächst der Reduzierung von Gewalt gedient. So wurden in den alten Gesellschaften oftmals Abkommen von Opfern begleitet oder ungeschützte Orte an den Grenzen einer Gemeinschaft durch Opfer gekennzeichnet.

Doch im Gegensatz zur Jagd ist bei der Opferung das Objekt der Gewalt nicht gesichts- und namenlos, vielmehr wird als Opfer ein monströser Stellvertreter gewählt. Dieser gehört nicht der engeren Gruppe an, steht jedoch in einer solch engen Verbindung mit ihr, dass er über Merkmale verfügt, durch die er für den bedrohlichen Rivalen einstehen kann. Vor allem jedoch wird das Opfer jener grundlegenden Schutzmöglichkeit beraubt, die Tieren bei der Jagd in der Wildnis zugestanden wird, nämlich der theoretischen Fähigkeit zur Selbstverteidigung und sogar zur Vergeltung. Aufgrund der kulturellen Codes von Wagners Zeit wurden somit zumeist Frauen zum Opfer, gelegentlich auch „Orientalen“ und „Juden“. Nicht zufällig endet sein monumentalstes Werk mit der wahrhaftigen Verbrennung einer Frau auf einem Scheiterhaufen. (In einer symptomatischen und bemerkenswerten Szene eines seiner ersten Werke, „Die Feen“, erweist sich eine von den männlichen Hauptfiguren gejagte Hirschkuh als verzauberte Frau.) Sowohl „Parsifal“ als auch „Der Ring“ kulminieren in der gewaltsamen Opferung der ambivalenten weiblichen Heldinnen Kundry und Brünnhilde. In beiden Fällen signalisiert ihre gewaltsame Entfernung, dass die Erschütterung der sozialen Ordnung überwunden wurde. Die Funktion dieser weiblichen Opfer ist von solch entscheidender Bedeutung, dass beide Werke nach ihnen hätten benannt werden können, wenn nicht sogar müssen. Dennoch trägt nicht eines von Wagners Signalwerken einen Frauennamen im Titel. Auch dieses Verschweigen ist ein Akt der Gewalt. Und in einem weiteren Fall der Parallelisierung von Kunst und Leben kann Wagners unerbittliches Drängen auf eine Taufe des jüdischen „Parsifal“-Dirigenten Hermann Levi als Sehnsucht nach einem Akt der Opferung verstanden werden.

Die Opferung von Brünnhilde und Kundry führt aus einem Zustand der Unbestimmtheit heraus: Das Rheingold erlangt seinen Status als Edelmetall im Schoße der Natur zurück, und das Gralsritual wird als Domäne einer ausschließlich männlichen Bruderschaft im Tempel wiederhergestellt. Insbesondere im „Parsifal“ wird mit hochbelasteten Einsätzen operiert, da Kundrys Opferung mit einer versuchten männlichen Selbstopferung konkurriert, Klingsors eigener Schändung. Im Unklaren bleibt dabei, ob der umherirrende Ritter sich einer Beschneidung oder einer Kastration unterzieht. Doch unabhängig davon wird der Akt als anomaler Bruch mit der natürlichen Ordnung dargestellt. In seinem letzten Werk stellt Wagner somit überdeutlich klar, dass es keinen Ersatz für jenen ultimativen Ersatz der allgemeinen Gewalt geben kann. Männer können sich nicht selbst zum Opfer der Gewalt machen, vielmehr muss der weibliche Körper gewaltsam geopfert werden. Dank dieser Opferung gelangt das Umherirren – das Thema und der Inhalt des Dramas – an ein Ende und die ewige Gegenwart hält Einzug. Wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass der entscheidende Begriff in Wagners umfassender Programmschrift zur deutschen Musik und deutschen Politik Wiedergeburt lautete, wird die niederschmetternde Ironie deutlich, die darin steckt, dass das Objekt der unvergleichlich gewalttätigen Passagen dieser Wiedergeburt der weibliche Körper ist. Frauen müssen bei Wagner den Opfertod sterben, auch wenn sie in der Geburt neues Leben schenken können.

© Dr. Susanna E. McFadden

 

Adam J. Sacks

Adam J. Sacks ist Kulturhistoriker für die europäische und russische Moderne und lehrt gegenwärtig an der School of Humanisties der Universität Hongkong. In seinen Veröffentlichungen beschäftigt er sich mit Erinnerungspolitik, öffentlicher Geschichte, kultureller Deutung und Kulturkritik. Zusätzlich zum Masterabschluss und der Promotion an der Brown University hat er am City College der City University of New York einen Masterabschluss in Pädagogik erworben.