Richard Wagner und Kapitalismuskritik

Jascha Nemtsov | 27. Juli 2022

Bei Kapitalismuskritik mag man zuerst an Karl Marx denken, dabei ist es ebenso ein zentrales Thema im Werk von Richard Wagner. Dessen Ansatz ist weniger wissenschaftlich-analytisch, findet seine Wurzeln aber gleichsam im Zeitgeist. Der Pianist und Musikwissenschaftler Jascha Nemtsov widmet sich in seinem Beitrag im Rahmen der Ausstellung „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“ diesem Aspekt.

Im Mai 1877 fand in London ein Wagner-Festival statt, bei dem Auszüge aus dem „Ring des Nibelungen“ erstmals dem englischen Publikum präsentiert wurden. Während der Reise sah Wagner englische Fabriken. Als er die Themse hinauffuhr, erklärte er Cosima: „Der Traum Alberichs ist hier erfüllt. Nibelheim, Weltherrschaft, Tätigkeit, Arbeit, überall Druck des Dampfes und Nebel“.

Kaum ein anderes bedeutendes Musikwerk des 19. Jahrhunderts ist derart von sozialkritischem Gedankengut inspiriert wie „Der Ring des Nibelungen“. Die herrschende Klasse wird dort in Gestalt von „Göttern“ dargestellt, die nicht nur ruchlos und verkommen sind, sondern auch ihren eigenen Untergang herbeisehnen. Das ganze Werk ist von der Idee einer Revolution beseelt, die den unerträglichen Zuständen ein Ende setzen und eine neue Weltordnung einleiten sollte. Die Revolution, deren Scheitern Wagner 1849 hautnah erlebte, wird auf der Bühne als „Götterdämmerung“ und Krönung seiner Operntetralogie vollendet.

Während diese „Götter“ für die etablierte Herrscherschicht stehen, symbolisieren die beiden widerwärtigen Nibelungen-Brüder Alberich und Mime im „Ring“ die kapitalistischen Emporkömmlinge, den neuen „Geldadel“. Geld ist für Wagner nicht nur Dreh- und Angelpunkt der ungerechten kapitalistischen Weltordnung, es ist das Böse an sich, allgegenwärtiger „Dämon der Menschheit“. „Eigentum ist Diebstahl“, hatte er noch in den frühen 1840er Jahren vom französischen Anarchisten-Führer Pierre-Joseph Proudhon gelernt. Während der Arbeit an seinem Nibelungen-Drama las Wagner im Schweizer Exil die Broschüre „Zur Judenfrage“ von Karl Marx, in der das Judentum als Verkörperung der Geldmacht im Kapitalismus dargestellt wird: „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. […] Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. […] Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden.“ Das leuchtete Wagner ein, einige Passagen aus seiner kurz danach entstandenen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ lesen sich wie eine direkte Fortsetzung von Marx‘ Gedankengängen: „Der Jude […] herrscht und wird so lange herrschen, als das Geld die Macht bleibt, vor welcher all unser Thun und Treiben seine Kraft verliert.“

Während Marx seine mythologische Identifikation der Juden mit Geld später aufgab und vielmehr versuchte, die Mechanismen der kapitalistischen Ausbeutung wissenschaftlich-analytisch zu erfassen, steigerte sich Wagner immer stärker in den selbstgeschaffenen Mythos. „Der verhängnisvolle Ring des Nibelungen als Börsenportefeuille“, sinnierte er etwa in seinen Aufzeichnungen 1881, „dürfte das schauerliche Bild des gespenstigen Weltbeherrschers zur Vollendung bringen“. Die künftige Revolution solle daher auch die Befreiung der Welt vom imaginären „Juden“ mit sich bringen, dem „plastischen Dämon des Verfalles der Menschheit“, so Wagner.

Als Kritiker des Kapitalismus blieb Wagner ein Produkt der frühsozialistischen Bewegung, deren Denkweise Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ als „spekulatives Spinnweb, überstickt mit schöngeistigen Redeblumen, durchtränkt von liebesschwülem Gemütstau“ verspotteten. Im Gegensatz zu den Gründern des „wissenschaftlichen Sozialismus“ glaubte Wagner nicht an den Klassenkampf, sondern an die künstlerische Kraft seiner Musikdramen und an die spirituelle Kraft seiner eigenen, im „Parsifal“ offenbarten pseudochristlichen „Religion“ der auserwählten Blutsgemeinschaft, die die Menschheit veredeln und von dem Fluch des Geldes befreien sollte.

Auch wenn die Wege zur Überwindung der sozialen Misere bei Wagner und Marx sehr unterschiedlich sind, gleichen sich die beiden in ihrer unversöhnlichen Ablehnung der verhassten Gesellschaftsordnung ihrer Zeit, der sie sehnsüchtig den Untergang wünschten. „Wie ein böser nächtlicher Alp wird dieser dämonische Begriff des Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge von öffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und Bankiersspekulationen“, sprach Wagner im Juni 1848 in einer öffentlichen Rede. Dafür war ihm buchstäblich jedes Mittel recht. Vor der revolutionären Gewalt schreckte er nicht zurück, im Gegenteil, nur eine gewalttätige Erhebung, ein „ungeheurer Vulkan“ wäre in der Lage, die Ordnung zu zerstören, „die Millionen zu Sclaven von Wenigen, und diese Wenigen zu Sclaven ihrer eignen Macht, ihres eignen Reichthumes macht, […] die einen Menschen elend macht durch den Mangel, und den andern durch den Überfluß.“ Zurecht bezeichnete Wagners Enkel, der Publizist Franz W. Beidler, seinen Großvater als „sozialrevolutionären Dichterkomponisten“, dessen „Ring des Nibelungen“ ein „künstlerisch-seherisches Gegenstück“ zur wissenschaftlichen Kritik von Karl Marx sei: „Die komplizierten Schachtanlagen und Hüttenwerke des Ruhrgebietes etwa vereinfachen sich zu den Werkstätten Nibelheims, die Anonymität des Kapitals, die Unsicherheit des Aktionärs enthüllt sich im verschleierten Tarnhelm. Die dämonische Kraft des Ringes, d. h. des kapitalistischen Macht- und Profitstrebens, durchdringt alle Beziehungen, löst alle Bindungen, Rechte und Sitten auf.“

Seinen Glauben an die zerstörende und reinigende Kraft der künftigen Revolution gab Wagner auch nach deren Scheitern nicht auf. Die nächste Revolution würde ein Erfolg sein, so seine feste Überzeugung. „Aus den Trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche“, schrieb er 1851 an einen Freund über sein geplantes Werk. „Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf und lade zu einem großen dramatischen Feste ein. Nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen.“

Der Traum wurde erst 25 Jahre später realisiert, allerdings nicht am Rhein, dem authentischen Handlungsort, sondern im beschaulichen bayerischen Bayreuth und nicht in Form eines revolutionären Theaterzelts, sondern eher an Götterburg und Tempel Walhalla erinnernd. Das Bayreuther Festspielhaus überlebte glücklicherweise sogar die beiden Weltenbrände des 20. Jahrhunderts. Auch heute noch, 150 Jahre nach deren Einweihung, erscheinen dort jeden Sommer die Wotans, Frickas und Alberichs dieser Welt in trauter Gemeinsamkeit auf dem roten Teppich, um sich anschließend an den Bildern des eigenen Untergangs zu ergötzen und von Wagners Musik zu berauschen. Danach geht es zu einem gemütlichen Dinner in einem feinen Restaurant.

Wie lange noch?

 

 

Jascha Nemtsov

Jascha Nemtsov, Prof., Dr. habil., Pianist und Musikwissenschaftler, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und Akademischer Leiter der Kantorenausbildung des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam. Zahlreiche Publikationen zu jüdischer Musik und jüdischen Komponisten im 19. und 20. Jahrhundert sowie Themen wie „Nationalismus und Musik“, „Religion und Musik“ oder „Totalitarismus und Musik“. Weltweite Konzerttätigkeit und mehr als 40 CDs, darunter viele Ersteinspielungen von Werken wiederentdeckter jüdischer Komponisten.