Marie Marcks zum 100. Geburtstag
Wolfgang Cortjaens und Mario Russo | 25. August 2022
Heute wäre Marie Marcks 100 Jahre alt geworden. 2007 erwarb das DHM 100 Originalblätter von der Künstlerin selbst für die Sammlung Angewandte Kunst und Grafik. Sammlungsleiter Wolfgang Cortjaens und Depotwart Mario Russo stellen die Karikaturistin vor.
„Mitten in der Inflation, als 1 Mohrübe 10.000.- Mark kostete und meine Mutter sich ihren Unterricht mit Briketts bezahlen ließ,
kam ich im Krankenhaus Bethanien zur Welt.
Heute ist es ein Künstlerhaus und liegt in Kreuzberg.
Und wo Kreuzberg ist, weiß jeder: in Berlin.“
Mit diesen − orthografisch nicht fehlerfreien − Worten beginnt Marie Marcks ihren Comic-Band[1] „Marie, es brennt!“, dem ersten Teil ihrer 1984 publizierten „Autobiographischen Aufzeichnungen“, wie sie sie nannte. 1989 folgte dann Teil 2 unter dem Titel „Schwarz-weiß und bunt“.
Sie wuchs in Berlin-Wilmersdorf in einer Künstler*innen-Familie auf: der Vater war Architekt, die Mutter Grafikerin mit eigener, privater Kunstschule und ein Onkel Bildhauer. Ein Leben als Künstlerin war somit quasi vorgezeichnet; jedoch war nicht abzusehen, dass Marie Marcks später die Grande Dame der politischen Karikatur in der BRD werden sollte.
Doch zunächst beeinflussten das Nazi-Regime und der Krieg ihr junges Leben: Kartoffelernte auf dem Lande, Reichsarbeitsdienst, Kriegshilfsdienst in einer Flugzeug-Motoren-Fabrik. Zurück in Berlin ging es mit dem Architekturstudium los, das sie ab Mitte 1943 in Stuttgart weiterführte. In beiden Städten hatte sie je eine Liebesbeziehung: sie lebte polyamor noch bevor der Begriff erfunden wurde! Es sollte nicht die einzige „Extravaganz“ in ihrem ereignisreichen Leben bleiben.
Ihre erste Tochter kam im August 1944 in Posen zur Welt; vier weitere Kinder sollten folgen, die Marie Marcks alleinerziehend großzog − in der Adenauer-Ära eine eher ungewöhnliche Familienbiografie.
Bis zum Kriegsende und in den darauffolgenden Wirren ging‘s über Berlin und Niedersachsen nach Heidelberg, wo ihre Schwester lebte. Diese Stadt wurde ihre neue Heimat, wo sie auch die ersten Arbeitsaufträge für die Gestaltung von Plakaten bekam. 1958 dann ein erster beruflicher Durchbruch: sie gestaltete den grafischen Auftritt für den bundesdeutschen Beitrag zur Expo 58, der Weltausstellung in Brüssel.
Anfang der 1960er-Jahre begann sie politische Karikaturen zu veröffentlichen. Zuerst in der Zeitschrift „atomzeitalter“, bei der sie 1963 bis 1965 als feste Karikaturistin angestellt war. Anschließend war sie bis 1988 Stammkarikaturistin bei der „Süddeutschen“, wo sie die einzige Frau im Team war. Dazu kamen Beiträge für den „Stern“ und den „Spiegel“ sowie „Titanic“ und „Vorwärts“. Ab Mitte der 1970er-Jahre veröffentlichte sie auch zahlreiche Bücher.
Sie wäre geradezu prädestiniert gewesen, die Hauskarikaturistin der feministischen Zeitschrift „Emma“ zu werden, die sich jedoch für Franziska Becker entschied. „Alice Schwarzer fragte mich für die ‚Emma‘ an, aber mein Cartoon war ihr dann doch zu ‚männerfreundlich‘“, sagte Marcks vor zehn Jahren in einem Interview.[2] Sie dagegen wollte sich nie auf das Frauenthema beschränken oder reduzieren lassen, sondern die ganze Palette politischer und gesellschaftlicher Themen bearbeiten.
2007 erwarb das DHM für die Grafiksammlung 100 Originalblätter von der Künstlerin selbst.[3] Vertieft man sich in diese Arbeiten, entdeckt man schnell ihre Themen, die auch den politischen und gesellschaftlichen Diskurs jener Zeit wiedergeben: Atomkraft, Umweltschutz, Geschlechterverhältnis, Rechtsextremismus – um nur einige zu nennen.
Viele der Themen, die Marcks anspricht, scheinen zeitlos zu sein beziehungsweise sind immer noch oder wieder (hoch-)aktuell. Wie zum Beispiel der ungelöste Konflikt um den §218 oder der Streit um die autogerechte Stadt bzw. das Tempolimit.
Einige Karikaturen wiederum wirken heute – insbesondere in Bezug auf die gewählten Stereotypen – etwas aus der Zeit gefallen (wie zum Beispiel die Karikatur zum Thema Arbeitsmigration). Hier werden Männer mit Migrationshintergrund, sogenannte „Gastarbeiter“, mit Attributen und diffamierenden Äußerungen belegt, die wegen ihrer verletzenden Wirkung so heute nicht mehr in Karikaturen Verwendung fänden.
Marcks Stilmittel sind betont einfach. Ihre häufig in Schwarz-Weiß gehaltenen Momentaufnahmen aus dem bundesdeutschen Alltag zeichnen sich durch eine so pointierte wie sparsame, oft auf die Umrisslinie beschränkte Strichführung aus. Schraffuren oder farbige Akzente werden (insbesondere bei den für die Presse bestimmten Auftragsarbeiten) nur vereinzelt und sehr gezielt gesetzt. Der Bedeutung, die Marcks dem Wort beimaß, und ihrem bisweilen groben Humor entsprechen die oft prominent und gleichwertig zur Zeichnung behandelten Sprechblasen, in denen sie ihren grundsätzlich langnasigen Protagonist*innen hohle Phrasen aus Tagespolitik, unreflektierte Stammtischsprüche und vorverurteilende Diffamierungen in den Mund legt. Bemerkenswert ist die Klarheit, mit denen Marie Marcks stets dezidiert Position in politischen Tagesfragen kommunaler oder bundesweiter Politik bezog.
Stilistisch beeinflusst wurde Marcks anfänglich durch französische Karikaturisten wie Jean-Maurice Bosc (1924 bis 1973) und den ihr in vielerlei Hinsicht geistesverwandten Jean-Marc Reiser (1941 bis 1983), den Schöpfer des legendären „Schweinepriesters“, aber auch des Bandes „Vive les femmes!“, der 1978 den Kampf der Geschlechter ins Bild setzte und für seine Drastik sogar von feministischer Seite Lob erntete. Zeitweise arbeitete sie mit den Zeichnern der Neuen Frankfurter Schule zusammen, darunter F. K. Waechter (1937 bis 2007) und Chlodwig Poth (1930 bis 2004), mit denen sie durch ihre Beiträge für „Pardon“ und „Titanic“ sowohl beruflich als auch künstlerisch-freundschaftlich verbunden war.
Bedeutende Karikaturistinnen und Cartoonistinnen wie Franziska Becker (*1949) oder Katharina Greve (*1972) haben stets die Pionierleistung der bis kurz vor ihrem Tod künstlerisch aktiven älteren Kollegin hervorgehoben.
Am 7. Dezember 2014 verstarb Marie Marcks im Alter von 92 Jahren in Heidelberg.
Verweise:
[1] Purist*innen der Neunten Kunst würden es als Bilderbuch bezeichnen. Andere wiederum sehen darin die erste im deutschsprachigen Raum veröffentlichte Graphic Novel.
[2] Martina Schmidt, „Marie Marcks in der Caricatura: Der Emma war ich zu männerfreundlich”, Interview in: Emma, 10. August 2012 (abgerufen am 17.08.2022).
[3] Ihr künstlerischer Nachlass wurde 2013 durch das Deutsche Museum für Karikatur und Zeichenkunst Wilhelm Busch in Hannover aufgekauft.
© DHM/Thomas Bruns |
Wolfgang CortjaensWolfgang Cortjaens ist Leiter der Sammlung Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum. |
Mario RussoMario Russo ist Deportwart für die Sammlung Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum. |