Ein Befreiungskleid aus Mulhouse
Marie Czarnikow | 23. November 2022
In Kleidung ist bis heute ein Code der Zugehörigkeit eingeschrieben. So erzählt ein Befreiungskleid aus Mulhouse von einem Bekenntnis zur französischen Staatsbürgerschaft während der wechselvollen politischen Geschichte des Elsass. Marie Czarnikow, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789“, schreibt zu diesem Thema auf dem Blog.
Am 17. November 1918 versammelten sich die Einwohner*innen der Stadt Mulhouse im Stadtzentrum, um die französischen Truppen zu begrüßen. Nur eine Woche zuvor, am 11. November 1918, war in einem Eisenbahnwaggon in Compiègne der Waffenstillstand zwischen Frankreich und dem Kaiserreich unterzeichnet worden. Damit war der Erste Weltkrieg zumindest an dieser Front nach mehr als vier Jahren beendet und damit auch mehr als 40 Jahre politische Zugehörigkeit des Elsass als „Reichsland“ zu Deutschland. Aus Mühlhausen wurde wieder Mulhouse. Den Einmarsch der französischen Armee empfanden viele Elsässer*innen als Befreiung und verliehen diesem Gefühl durch die Wahl ihrer Kleidung Ausdruck: So trug auch die Mulhouserin Elisabeth Schlumberger ein traditionelles elsässisches Kleid, erkennbar unter anderem an der typischen Haube, dem Anlass angepasst jedoch in den Farben der französischen Trikolore. Der General Auguste Hirschauer schenkte ihr zum Kleid eine Kokarde sowie ein rot-weiß-blaues Band, das sie um einen Blumenstrauß trug. Dieses „Befreiungskostüm“ hat das Musée Alsacien in Straßburg im Jahr 2022 erhalten; nun wird es in der Ausstellung „Staatsbürgerschaften“ im Deutschen Historischen Museum gezeigt.
Das Kleid und die Accessoires verdeutlichen die ambivalente Stellung des Elsass zwischen Deutschland und Frankreich. Es zeigt jedoch auch, dass Staatsbürgerschaften und Patriotismus keinesfalls nur trocken auf dem Papier Ausdruck finden, sondern aufwendig zur Schau gestellt wurden und werden. Im Fall des Elsass geschah dies je nach politischer Zugehörigkeit und Herrschaft auf subversive oder wie in diesem Fall offensive Weise.
Das Elsass wurde spätestens nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zum Zankapfel. Mit der Niederlage Frankreichs schrieb der Frankfurter Vertrag vom 10. Mai 1871 fest, dass sich die Elsässer*innen in einem Optionsverfahren entweder für die deutsche oder die französische Staatsbürgerschaft entscheiden mussten. Wählten sie die französische, mussten sie ihre Heimat verlassen. Entschieden sie sich hingegen für die deutsche, konnten sie im neu gegründeten „Reichsland“ bleiben, mussten jedoch umfassende Germanisierungsmaßnahmen ertragen. Obgleich viele Elsässer*innen von da an die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, bekannten sie sich auf subtile Weise zu Frankreich. Eine solche Situation hält das ebenfalls in unserer Ausstellung gezeigte Gemälde „Ein patriotischer Zwischenfall in Strasbourg 1871“ eines anonymen Künstlers aus dem Jahr 1873 fest: Es zeigt drei Frauen, die in Kleidern in den Farben der Trikolore durch die Stadt laufen. So subtil das Bekenntnis zu Frankreich sein mochte, so populär war jedoch das Motiv, denn der anonyme Künstler des Gemäldes reproduzierte eine vielfach gedruckte Chromolithographie von A. Lemercier nach einem Motiv von Jan Baptist Huymans mit dem Titel „Trotz allem unsere Fahne“.
Patriotische Kleidung bzw. der Versuch, der eigenen politischen Zugehörigkeit durch die Wahl symbolischer Kleidungsstücke Ausdruck zu verleihen, lässt sich bis in die Zeit der Französischen Revolution zurückverfolgen. Die Kokarde, die auch das Befreiungskleid von Elisabeth Schlumberger schmückt, sollte ab September 1793 verpflichtend von Männern und Frauen in ganz Frankreich getragen werden. Dass auch Frauen ihren patriotischen Gefühlen Ausdruck durch dieses Accessoire verleihen konnten, war dem Einsatz der „Revolutionären Republikanerinnen“ zu verdanken.[1] Auch in den deutschen Staaten wurde diskutiert, ein „Nationalkostüm“ einzuführen. Insbesondere anlässlich des ersten Jahrestags der Völkerschlacht trugen zahlreiche Frauen in Frankfurt am Main eine „deutsche Volkstracht“, was in der zeitgenössischen Publizistik lebhaft diskutiert wurde. Für das Tragen der Tracht traten insbesondere Frauen aus dem Frankfurter Großbürgertum ein und argumentierten, dass die Frauen damit ein Bekenntnis zur deutschen Einheit ablegen würden. Dass ausgerechnet Frauen für diese Form des Patriotismus plädierten, mag ein Pendant zu den Uniformen gewesen sein, die bereits seit mehreren Jahren für männliche Soldaten vorgesehen waren.[2]
Doch zurück zum Elsass der Jahrhundertwende: Das Befreiungskleid von Elisabeth Schlumberger zeugt nicht nur von der emotionalen Bürde der Besatzungsherrschaft, die 1918 für viele Menschen ein Ende fand, es verweist ebenso auf die Volkskultur im Elsass, handelt es sich doch um eine traditionelle Tracht. Im Elsass gab es eine lange und reichhaltige Trachtentradition, die um die Jahrhundertwende unter dem Eindruck von Industrialisierung und Modernisierung von der elsässischen Heimatbewegung gefördert wurde. Als zentraler Sammlungsort für diese Volkskultur sollte das bereits erwähnte, 1907 gegründete Musée Alsacien dienen – dort sollten unter anderem traditionelle Trachten gesammelt werden, um einer mythischen Vergangenheit des Elsass zu gedenken und eine vermeintlich ursprüngliche und unberührte Volkskultur zu fördern.[3]
Die elsässischen Trachten wurden im Zuge der wechselnden politischen Zugehörigkeit in verschiedene nationale Kulte integriert. Bei Empfängen für den deutschen Kaiser trugen Elsässerinnen oft traditionelle Trachten, ebenso jedoch ausdrucksstark mit den Symbolen der französischen Republik verbunden am Ende des Ersten Weltkriegs. Auf den Siegesfeiern spielten die elsässischen Trachten erneut eine große Rolle: Beim Besuch des Ministerpräsidenten Georges Clémenceau und des Staatspräsidenten Raymond Poincaré defilierten Elsässerinnen in traditionellen Kleidern und überreichten Blumen. Auch an der Défilé de la Victoire (Siegesparade)am 14. Juli 1919 in Paris nahmen Elsässerinnen in Trachten teil.[4]
Das freiwillige, offensive Bekenntnis zu Frankreich durch das Tragen von Befreiungskleidern ging damit einem rigorosen administrativen Verfahren voraus: Durch ein Dekret vom 14. Dezember 1918 wurde die Staatsangehörigkeit der elsässischen Bevölkerung mittels des Triage-Verfahrens bestimmt. Nur wer eine bestimmte Anzahl an französischen Vorfahren nachweisen konnte, erhielt einen sogenannten Triage-Pass der Kategorie A oder B, wurde französischer Staatsbürger und durfte im Elsass bleiben. Alle anderen erhielten einen Pass der Kategorie C oder D; viele dieser nunmehr deutschen Staatsangehörigen mussten ihre bisherige Heimat verlassen.[5] Das Elsass blieb bis zum Zweiten Weltkrieg ein umstrittenes Territorium und so erlebten auch die Befreiungskleider einen zweiten Auftritt: 1944, am Ende der deutschen Besatzungsherrschaft, feierten die Elsässer*innen erneut ihre Zugehörigkeit zu Frankreich, indem sie sich in Befreiungskostüme in den Farben der Trikolore kleideten.
Verweise:
[1] Vgl. Susanne Petersen, Die große Revolution und die kleinen Leute, Köln 1988, S. 128–129.
[2] Vgl. Jochen Ramming, Die uniformierte Gesellschaft. Zur Rolle vereinheitlichender Bekleidungsweisen am Beginn des 19. Jahrhunderts. Beamtenuniform – Rabbinertalar – Nationalkostüm, Würzburg 2009, S. 199–206, 244.
[3] Vgl. Günter Riederer, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004, S. 316–320, 329.
[4] Vgl. Günter Riederer, Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871–1918), Trier 2004, S. 323, 331–332.
[5] Elisabeth Vlossak, Marianne or Germania? Nationalizing Women in Alsace, 1870–1940, New York/Oxford 2010, S. 209–211.
© Jana Münkel |
Marie CzarnikowMarie Czarnikow ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Ausstellungsprojekt „Staatsbürgerschaften“ am Deutschen Historischen Museum. Ihre 2022 erschienene Dissertation „Diaristik im Ersten Weltkrieg. Zwischen Alltagspragmatik und Privathistoriographie“ untersucht das Tagebuchschreiben als dokumentarische Praxis vergleichend in Deutschland und Frankreich. Davor studierte sie Europäische Medienkultur in Weimar, Lyon und Krakau. |