Eröffnungsrede von Dan Diner zur Ausstellung „Roads not Taken”
Dan Diner | 18. Januar 2023
Auf unserem Blog veröffentlichen wir die Rede von Dan Diner, Historiker und Vorstand der Alfred Landecker Foundation, die er bei der Eröffnung der Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können” am 8. Dezember 2022 hielt.
Ich möchte meine kurzen Ausführungen mit einer apodiktischen Aussage beginnen:
Dies ist eine historische Ausstellung. Und eine Ausstellung ist kein Geschichtsbuch. Vielmehr ist sie eine Inszenierung. Doch was wird dabei inszeniert? Ein Drama, ein Konflikt? Ein Skandal?
Weder geht es um das eine noch um das andere. Sondern um etwas höchst Ungewöhnliches: Es geht um die Ausstellung eines Arguments, genauer: Um eine geschichtsphilosophische Kategorie, der Kategorie der Kontingenz. Deshalb heißt die Ausstellung „Roads not Taken“ – sie behandelt nicht eingeschlagene Wege, und dies unter der Maßgabe, dass alles anders hätte kommen können, als es dann tatsächlich gekommen ist. Diese Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit gilt es in der Ausstellung sichtbar zu machen.
Alltagssprachlich ließe sich „Kontingenz“ mit Zufall, Wendung, Einschnitt oder Abbruch beschreiben. Eine sichtbar gewordene, ja, eine fühlbare, jedenfalls von den Zeitgenossen zur Kenntnis genommene mögliche Wendung. Ein Einschnitt, der sowohl im Privaten wie im Öffentlichen sich als Einschnitt, als Riss in der Lebensplanung niederschlägt. Die Menschen rufen diese Einschnitte in ihren Lebenserzählungen auf, die Nachgeborenen wissen davon. Die damit verbundene Zäsur hat ihre Zeichen, Symbole und Namen. Irgendwie sind wir alle damit vertraut.
All dies findet auch in der Geschichtsschreibung, in der niedergeschriebenen Geschichte ihren Ausdruck. Gleichwohl neigt diese dazu, jenen Ereignissen einen Zusammenhang aufzuerlegen, der einen Sinn generiert – und dieser Sinn neigt des Weiteren dazu, ihm so etwas wie eine Notwendigkeit zu unterlegen. Die vielen unverbundenen Punkte erscheinen uns im Nachhinein als eine eherne Linie. Die eingetretene und als solche niedergeschriebene Geschichte erscheint uns so als notwendig. Dafür bietet sich der Gegenbegriff zur Kontingenz an: die Teleologie. Die damit verbundene notwendige Linie insinuiert, als habe jenes auch eintreten müssen, was dann tatsächlich eingetreten ist. So, als ob der Geschichte so etwas wie eine Richtung, ein Ziel, eben ein Telos eingegeben war. Geschichtsschreibung, allein schon um den Fluss der Erzählung willen, neigt dazu, teleologisch angelegt zu sein.
Diese Ausstellung beabsichtigt mit der teleologischen Wahrnehmung insofern zu brechen, als sie Kontingenz nicht nur in den Mittelpunkt rückt, sondern all jene Ereignisse, Begebenheiten und Tendenzen hinzunimmt, die nicht wirklich geworden sind.
Hierfür ist es nötig den im Geschichtsgedächtnis eingekerbten Blick zu irritieren, zu verfremden. Darum haben wir den sonst üblichen historischen Verlauf von der Vergangenheit in die Gegenwart umgekehrt. Die Ausstellung beginnt im historischen „Jetzt“, mit dem Fall der Mauer 1989, um von da aus zeitlich zurückzugehen bis hin zum „Endpunkt“, dem chronologischen „Anfang“ des Jahres Revolutionsjahres 1848/49. Die Umkehrung der Zeitbewegung im historischen Raum will also die vertrauten Bilder verfremden und damit ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit für eigentlich Bekanntes erzeugen.
Die Umkehrung des historischen Zeitstrahls soll neben anderen Effekten auch dazu beitragen, das relativ erstarrte Gehäuse deutscher Geschichtsdeutung aufzuweichen. Und darüber hinaus den Blick auf die Kontingenz und damit auf weitere, in der Geschichte angelegt gewesenen, indes nicht wirklich gewordenen Möglichkeiten, zu schärfen. Damit wird die historisch gewordene Wirklichkeit nicht etwa umgedeutet. Im Gegenteil. Sie wird aber als eine der sich dargebotenen Möglichkeiten in den Fokus gerückt.
Wichtig ist zu betonen: Der Boden der eingetretenen Realität wird also in der Ausstellung nie verlassen. Insofern wird hier keine sogenannte kontrafaktische Geschichte präsentiert. Es wird sich lediglich über die Brüstung der gewordenen Wirklichkeit gelehnt, um zu erkennen, was weit unten angelegt und im Keimen war. Dies ist der Blick, den die Ausstellung einnimmt und damit auch die Frage, die sie stellt.
Im Zentrum der Ausstellung stehen ausgewählte Zäsuren, die kontrastiert werden mit Wendemöglichkeiten: Vierzehn Bilder, in denen Wirklichkeit und Möglichkeit räumlich gegenübergestellt werden, und eine Spannung entsteht. Das Argument muss also so ausgestellt werden, dass sich das Publikum unweigerlich die Frage stellt: Musste es so kommen, wie es gekommen ist?
So etwa das eindrückliche Bild von der Entlassung des Reichskanzlers Heinrich Brüning im Mai 1932. Er hatte von Reichspräsident Hindenburg eine weitere, nunmehr eine fünfte Notverordnung erbeten, die ihm jedoch verweigert wurde. Brüning verabschiedete sich mit einer Rede, in der er davon sprach, „100 Meter vor dem Ziel“ gestoppt worden zu sein. Neben seinem Bemühen, die Deutschland auferlegten Reparationszahlungen zu reduzieren, schien damit auch seine Absicht gemeint gewesen zu sein, das Land aus der Wirtschaftskrise zu navigieren und so bis zu den nächsten regulären Reichstagswahlen, die im Herbst 1934 hätte stattfinden sollen, durchzuhalten. Tatsächlich betrachteten Ökonomen im Herbst 1932 die Talsohle der Krise bereits für überwunden, in der Gesellschaft keimte erste Hoffnung auf. Der Aufschwung aber kam schließlich Adolf Hitler, und nicht mehr Brüning zugute. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, die zu dem inzwischen ikonischen Datum des 30. Januar 1933 erfolgte, war damals unerwartet gewesen. Bei den Reichstagswahlen im November 1932 hatte die NSDAP zwei Millionen Stimmen verloren. Interne Auseinandersetzungen schüttelten sie. Hitler, der eine Strategie des „alles oder nichts“ verfolgte, drohte seinen Anhängern mit Suizid. Als er dann am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, sprach die NS-Presse von einem „Wunder“, während der sozialdemokratische “Vorwärts” noch am 28. Januar von Hitler als einem “Faschingskanzler” die Rede war.
Oder im März 1936, als Hitler die Militarisierung des Rheinlandes unternahm und dies als höchstes Wagnis erachtete – angesichts eines Nachbarlands Frankreich, das über die mächtigste Kontinentalarmee in Europa verfügte. Bei einer militärischen Reaktion aus Paris wäre nicht nur die Wehrmacht sofort abgezogen – auch die Autorität Hitlers im Reich wäre massiv in Mitleidenschaft gezogen worden, Reaktionen in der Wehrmacht eingeschlossen.
Was wäre gewesen, wenn das Attentat der Verschwörer des 20. Juli 1944 auf Hitler erfolgreich gewesen wäre? Angesichts des hohen Maßes an Wahrscheinlichkeit, dass Hitler bei dem Attentat hätte getötet werden können, mutet sein Scheitern wie ein Zufall an, den die Nazis in ihrer pseudoreligiösen Sprache als „Vorsehung“ überhöhten.
Die Ausstellung legt Tendenzen von Möglichkeiten, die sich nicht haben durchsetzen können, unter das Mikroskop, um sie auf ihr Potential der Verwirklichung zu befragen. Im Nachhinhein erweist sich die bundesrepublikanische Zeit als eine höchst stabile, wenn nicht gar als die goldene Zeit jüngerer deutscher Geschichte. Eine Kontinuität von Stabilität, die gleichwohl, auch von außen her, garantiert worden war. Es war der Kalte Krieg als System und als ein Gefäß der Sicherheit und des Wohlstandes, dass jene Stabilität gewährleistete, begleitet von der Gefahr und der Furcht vor Angst vor der atomaren Apokalypse.
Auch das Jahr 1952 erweist sich, zumindest was die dargebotenen Optionen angeht, als potenzieller Wendepunkt. So öffneten die Stalinnoten das Angebot eines vereinigten, aber dafür neutralistischen Deutschland. Die eingetretene Geschichte hingegen folgte einem anderen Pfad: Statt den nationalen Lockungen aus dem Osten zu folgen, suchte Bonn die Integration in den Westen, genauer: nach Europa. Montanunion, Bestrebungen nach einer europäische Verteidigungsgemeinschaft, Lastenausgleich nach innen, „Wiedergutmachung“ an Israel nach außen. Mit frischem Blick zurück ist das Jahr 1952 für die junge Bundesrepublik als nicht geringer einzuschätzen als das formalere Gründungsjahr 1949.
Die Ausstellung strebt historische Aufklärung ebenso an wie die Stärkung historischer Urteilskraft. Sie soll dazu beitragen, den Blick für historische Unterschiede und Unterscheidungen zu treffen. Und sie will helfen, demokratisches Bewusstsein zu verbreiten. Insofern handelt es sich um eine zutiefst politische Ausstellung.
Die Alfred Landecker Foundation steht mit ihrer Entstehungsgeschichte dafür, dass aus der Geschichte Lehren gezogen werden – Lehren zum Schutze der Demokratie. Und dabei sind wir überzeugt, dass sich demokratische Werte am besten über den Schutz und mittels der Stütze demokratischer Institutionen gewährleisten lassen.
Zur Stärkung von Urteilskraft und historischem Unterscheidungsvermögen mag auch die Realität heute beitragen. Für viele Besucher und Besucherinnen legt sich wohl die Gegenwart und der russische Krieg in und gegen die Ukraine wie eine Folie über die ausgestellte Vergangenheit. Dies ist ein Ausfluss der „Zeitenwende“, die eine regelrechte Kontingenz angesichts unserer Geschichtserwartung darstellt. So grätscht die Gegenwart in eine Ausstellung über die Vergangenheit und macht darüber erst recht deutlich, was ihr ureigenster Gegenstand ist: Der Einbruch des Unerwarteten in eine bislang gültige Lebenswirklichkeit.