Der Wettlauf um die Atombombe
Takuma Melber | 28. Februar 2023
Hätten amerikanische Atombomben deutsche Städte dem Erdboden gleichgemacht, wenn Deutschland im Mai 1945 nicht kapituliert hätte? Dieser Frage geht die Ausstellung „Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können“ neben 13 weiteren Zäsuren der deutschen Geschichte nach. Dr. Takuma Melber, Universität Heidelberg, erörtert in diesem Blogbeitrag die Entwicklung der Atombombe während des Zweiten Weltkriegs.
Bereits einen Monat vor dem deutschen Überfall auf Polen übersandte der bedeutende Physiker Albert Einstein US-Präsident Franklin D. Roosevelt einen Brief. In dem auf den 2. August 1939 datierten Schreiben wies er darauf hin, dass Deutschland wahrscheinlich an der Entwicklung einer neuartigen, auf der Spaltung von Uran basierenden Bombe arbeite: „Eine einzige Bombe dieser Art, auf einem Schiff befördert oder in einem Hafen explodiert, könnte sehr wohl den ganzen Hafen zusammen mit Teilen des umliegenden Gebietes zerstören. Möglicherweise werden sich solche Bomben als zu schwer für den Transport auf dem Luftweg erweisen.“ [1]
Einsteins Ratschlag aufgreifend ließ Roosevelt die kerntechnologische Forschung zu militärischen Zwecken intensivieren – das „Manhattan-Projekt“, die Entwicklung von Atombomben, die in den letzten Kriegstagen gegen Japan zum Einsatz kommen sollten, war geboren. Ab September 1942 nahm das US-Atomwaffenprojekt Fahrt auf: Unter der militärischen Leitung von General Leslie R. Groves und der wissenschaftlichen Leitung von J. Robert Oppenheimer, Sohn eines deutsch-jüdischen Immigranten, arbeiteten die von verschiedenen amerikanischen Universitäten entsandten, besten Atomphysiker des Landes unter strengster Geheimhaltung in Los Alamos (New Mexico) an der Entwicklung der Atombombe.
Wie Einstein richtig vermutet hatte, strebte das Deutsche Reich die militärische Nutzung der Kernspaltung von Uran an – eine Entdeckung, die Otto Hahn und Fritz Strassmann Ende 1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin gemacht hatten. Allerdings machte das deutsche Uranprojekt weitaus geringere Fortschritte als das Manhattan-Projekt, was mitunter an der dezentralen Struktur des deutschen Programms gelegen haben mag; eine Bündelung der wissenschaftlichen Potentiale in der Atomforschung wurde versäumt und an mehreren Stellen im Reich wenig abgestimmt und parallel zueinander unterschiedlichen Strängen der Nuklearforschung nachgegangen. Im Auftrag des Heereswaffenamtes reiste etwa Nobelpreisträger Werner Heisenberg mit Carl Friedrich von Weizsäcker im September 1941 ins deutsch besetzte Kopenhagen zu Niels Bohr, um den dänischen Atomphysiker zu konsultieren. Bahnbrechende Fortschritte in der Atomwaffenentwicklung blieben aus, sodass deutsche Rüstungsanstrengungen angeführt von Rüstungsminister Albert Speer auf die Entwicklung und Produktion konventioneller Waffen fokussiert blieb. Im Laufe des Krieges reiste Bohr in die USA aus, unterrichtete die amerikanische Seite über deutsche Arbeiten an einer Atomwaffe und trug in Los Alamos wichtige theoretische Erkenntnisse zum Bau der US-Atombomben bei. Auch japanische Physiker, angeführt von Bohrs gutem Freund Yoshio Nishina, gingen der Frage nach, wie sich Atomenergie für Kriegszwecke einsetzen ließe. Der hierfür betriebene Aufwand war aber alles in allem noch geringer als in Deutschland, ebenfalls dezentralisiert und kaum organisiert. Nach Japans Niederlage in der Schlacht bei Midway (4.-7. Juni 1942) forderte Admiral Isoroku Yamamoto von den japanischen Kernwissenschaftlern die Entwicklung einer „epochalen Waffe“ und auch Japans Premierminister Hideki Tōjō appellierte, die Atomwaffenforschung zu forcieren. Da Japans Atomwissenschaftler aber wie ihre Kollegen im Deutschen Reich die Fehleinschätzung teilten, dass die Atomwaffenprojekte letztlich von nicht kriegsentscheidender Natur sein würden, blieben sie nur eines unter vielen verfolgten Rüstungsvorhaben. Verglichen mit den USA stand in punkto Ausmaß, Organisation, Bündelung der Potentiale und finanziellem Investment die nukleare Rüstung der Achsenmächte weit zurück; rund zwei Milliarden US-Dollar hatte Washington in die Nuklearwaffenentwicklung gesteckt.[2] Nach Einsichtnahme in geheime Unterlagen der deutschen Atombombenforschung kamen am Manhattan-Projekt beteiligte Wissenschaftler im November 1945 zu einem doch verblüffenden Urteil: „[Es] ist klar, dass das Gesamtpotential des deutschen Uranprojektes deutlich unter dem des amerikanischen lag. Dies kann an den beschränkten Möglichkeiten der deutschen Wirtschaft oder an einer ungünstigen Einstellung der Regierung gelegen haben. Es bleibt die Tatsache, dass eine unabhängige Gruppe von Wissenschaftlern, sehr viel kleiner als die unserige, unter ungünstigen Bedingungen relativ viel erreichte.“[3] Mit anderen Worten: Die deutschen Kernphysiker hatten den richtigen Weg eingeschlagen und wissenschaftliche Schlussfolgerungen analog zu den amerikanischen gezogen, die theoretisch in der erfolgreichen Entwicklung von Kernwaffen hätte resultieren können.
Am 16. Juli 1945 erfolgte unter dem militärischen Codenamen „Trinity“ (Dreifaltigkeit) die erste erfolgreiche Nuklearwaffenexplosion in der Wüste von Los Alamos; die USA hatten mit der nun einsatzbereiten Kernwaffe den vermeintlichen Wettlauf um die Atombombe gewonnen. Hätte die Wehrmacht nicht bereits am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert, wären möglicherweise deutsche Städte ins amerikanische Visier geraten. Berlin sowie Mannheim-Ludwigshafen standen 1943 bei einer ersten losen Diskussion potentieller Abwurfziele auf einer entsprechenden Liste des US-Militärs – allerdings zu einem Zeitpunkt, als den USA noch keine funktionierende Atombombe zur Verfügung stand. Erst im April 1945, als sich das Kriegsende in Europa überdeutlich abzeichnete und klar war, dass die neue Bombe nur noch im Pazifik zum Einsatz kommen würde, wurde ernsthaft debattiert, welche japanischen Städte geeignet erschienen, um die Wirkung der neu entwickelten Waffe zu testen. Mit Hiroshima, Kokura, Nagasaki und Niigata blieben letztlich vier weitestgehend unzerstörte japanische Städte auf der Liste übrig. Am 6. August 1945 warf eine Boeing B-29 die „Little Boy“ genannte Uranbombe über Hiroshima ab – mit verheerenden Folgen bis dato unbekannten Ausmaßes: Little Boy forderte unmittelbar 80.000 Todesopfer, die drei Tage später über Nagasaki detonierte Plutoniumbombe kostete weiteren 40.000 Menschen das Leben. Bis Ende 1945 stieg die Zahl der Toten auf 200.000 an – und unzählige Hibakusha (japanisch für Atombombenopfer) litten in der Nachkriegszeit an den Folgeschäden der radioaktiven Verstrahlung. Ob die von US-Präsident Harry Truman angeordneten Atombombenabwürfe tatsächlich notwendig waren, wird bis heute kontrovers von der Geschichtswissenschaft diskutiert, erschien die militärische Lage für das Japanische Kaiserreich im Sommer 1945 doch völlig aussichtslos.[4] De facto hatten Hiroshima und Nagasaki aber die Kapitulation Japans und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs zur Folge.
Die Atombombenabwürfe brannten sich tief in das kollektive Gedächtnis der japanischen Gesellschaft ein und sollten es Japan ermöglichen, seine Verantwortung für den Krieg in den Hintergrund zu rücken, das Opfernarrativ zu bedienen und sich selbst als „letztes Opfer des Zweiten Weltkriegs“ zu stilisieren.[5] Mit einem Atombombeneinsatz gegenüber deutschen Städten wäre die hiesige Vergangenheitsbewältigung womöglich weniger erfolgreich verlaufen.
Albert Einstein blieb übrigens am Manhattan-Projekt unbeteiligt, da in ihm aufgrund seiner pazifistischen Haltung und seiner Berühmtheit ein Sicherheitsrisiko für das streng geheime Atomwaffenprojekt gesehen wurde. Während mit britischen und kanadischen Experten kooperiert wurde, war den hunderten Wissenschaftlern des Manhattan-Projektes jeglicher Austausch mit dem berühmten Physiker untersagt worden. Nach dem militärischen Einsatz gegenüber Hiroshima und Nagasaki bedauerte Einstein die durch seinen Brief von 1939 an Roosevelt initiierte Atombombenentwicklung zutiefst; gegenüber der Wochenzeitung Newsweek gab er nach Kriegsende zu Protokoll: „Hätte ich gewusst, dass den Deutschen die Atombombenentwicklung nicht gelingen würde, hätte ich nichts unternommen.“[6]
Weiterführende Literatur
Coulmas, Florian, Hiroshima: Geschichte und Nachgeschichte, München 2010.
Ford, Douglas, The Pacific War. Clash of Empires in World War II, London 2012, S.213-229.
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Takuma MelberDr. Takuma Melber ist ein deutsch-japanischer Historiker und u.a. Autor des Buches „Pearl Harbor: Japans Angriff und der Kriegseintritt der USA, München 2016.“ Er lehrt und forscht am Heidelberg Centre for Transcultural Studies (HCTS) der Universität Heidelberg. Als Experte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs im asiatisch-pazifischen Raum tritt er international in TV-Dokumentationen und Radiosendungen in Erscheinung. |
[1] Zitiert nach: Walker, Mark, Das deutsche Uranprojekt. Amerikas Einschätzung der deutschen Atomforschung. In: Physik in unserer Zeit, Band 33/Heft 4, Weinheim 2022, S. 167-171, S. 169.
[2] Siehe zu den Atombombenprojekten Deutschlands und Japans: Grunden, Walter E.; Walker, Mark und Yamazaki, Masakatsu, Wartime Nuclear Weapons Research in Germany and Japan, in: Osiris, Band 20, Chicago 2005, S. 107-130.
[3] Walker, S. 168.
[4] Eine gute Zusammenfassung der Diskussion findet sich in Krebs, Gerhard, Das moderne Japan 1868-1952. Von der Meiji-Restauration bis zum Friedensvertrag von San Francisco, München 2009, S. 174-179.
[5] Vgl. Melber, Takuma, Das Leid der Eigenen. 1945 in der japanischen Erinnerungskultur. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Band 4-5/2020, Bonn 2020, S. 17-24.
[6] Newsweek, Ausgabe 10. März 1947, New York 1947, S. 58.