Das Kontrast-Prinzip – Ist der Pei-Bau ein Kommentar zur deutschen Geschichte?
Frank Schmitz | 19. Juli 2023
Vor 20 Jahren wurde der Pei-Bau, die postmoderne Ausstellungshalle des Deutschen Historischen Museums in Berlin eröffnet. Der chinesisch-amerikanische Architekt I. M. Pei entwarf damit einen Kontrast zum barocken Zeughaus. Kunsthistoriker Frank Schmitz geht in seiner Kolumne auf die Architektur des Baus ein.
Der Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums (DHM) ist von Gegensätzen geprägt: Nähert man sich dem 2003 eingeweihten Ausstellungshaus von der Straße Unter den Linden aus, dann tritt zuerst die gläserne Treppenspirale in Erscheinung. Sie sticht aus ihrer Umgebung heraus, die mit der Neuen Wache, dem Palais am Festungsgraben und dem Zeughaus von eckigen, steinernen Formen geprägt ist.
Je mehr sich aber der Blick in die Tiefe des Gebäudes – in Richtung Museumsinsel – wendet, umso mehr eröffnen sich die rechteckigen, steinernen und regelmäßigen Bereiche des Hauses.
Die Kontraste setzen sich damit auch innerhalb des Gebäudes fort, wo sich rechteckige, runde und spitzwinklige Formen abwechseln. Die lichte, gebäudehohe Halle mit angrenzenden Schauräumen ist dabei Schauplatz dieses Aufeinandertreffens von Gegensätzen und gleichzeitig Vermittlungsraum, in dem einige dieser unterschiedlichen Formen fließend ineinander übergehen. Während der massivere Gebäudeteil in Richtung Museumsinsel stärker rechteckig-kubisch und hermetisch geschlossen angelegt ist, kommen in Richtung des Gebäudeeingangs zum Palais am Festungsgraben zunehmend komplexere Formen und transparente Elemente hinzu: Ein großer kreisförmiger Wanddurchbruch, die spitz zulaufende Eingangshalle mit abschließendem Treppenaufgang, bei dem sich eine gläserne Zylinderform und eine Spiralform durchdringen.
Und doch gelang es Pei, diese Vielfalt an unterschiedlichen zweidimensionalen und plastischen Formen auf engem Raum zu einer Einheit zusammenzubinden. Dazu ließ er die Gegensätze nicht nur hart aufeinandertreffen, sondern vermittelte stellenweise auch zwischen ihnen, insofern sich einzelne Formen aus anderen ergeben: So ist das Raster der gläsernen Decke in der Eingangshalle im rückwärtigen Teil streng orthogonal, während in Richtung Eingang die gläsernen Rechtecke leicht gebogen sind. Sie gehen damit in die Form eines Parallelogramms mit geschwungenen Seiten über und lassen damit sowohl dreieckige wie auch gerundete Formen anklingen.
Diese Gestaltung ist aber nicht eine entwerferische Fingerübung um ihrer selbst willen: Pei reagierte damit auf den unregelmäßigen Zuschnitt des Grundstücks, auf dem eine einfache stereometrische Gebäudeform – etwa ein Kubus oder eine schlichte Keilform – nicht zu realisieren gewesen wäre. Gleichzeitig bildet der Erweiterungsbau des DHM eine Synthese aus früheren Museumsprojekten I. M. Peis, die wiederholt um das Thema von Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit kreisten: So richtete er die berühmten gläsernen Pyramiden im Hof des Louvre in den 1980er Jahren streng achsial auf die Struktur des orthogonalen Louvre-Innenhofs aus. Mit dem East Building der National Gallery of Art in Washington hingegen hatte er bereits in den 1970er Jahren ein vielschichtiges Spiel aus Regelhaftigkeit und Regelbruch geschaffen.
Und doch ist der Erweiterungsbau des DHM zugleich ein ortsspezifischer Kommentar: Durch seine unregelmäßige Massenverteilung bildet das Ausstellungshaus ein Gegenbild zum unmittelbar angrenzenden, streng symmetrischen Aufbau des barocken Stammhauses. Dessen symmetrische Fassadengliederung ist in vielfacher Hinsicht Ausdruck von Regelhaftigkeit: Die Fenstergiebel wechseln nach einem strengen Muster zwischen Dreiecks- und Segmentform, die Mittelachse ist hervorgehoben, die Seitenrisalite sind in sich streng hierarchisiert. Die Wahl der dorischen Säulenordnung folgt einem klassischen Dekorum, also einem auf die Antike zurückgehenden Konzept von einer „Angemessenheit“ der Bauformen, nach dem die kräftig-martialische Ordnung als besonders passend für Militärbauten galt. Gleichzeitig hat auch die Vorstellung von einer geordneten und ordnenden Architektur ihre Ursprünge in der Antike: So wird bereits im ältesten vollständig erhaltenen Architekturtraktat – Vitruvs Zehn Bücher über Architektur – die Arithmetik als grundlegendes Prinzip beschrieben, mit dem „Maßeinstellungen entwickelt und schwierige Fragen der Verhältnisse des Ebenmaßes nach geometrischen Gesetzen und Regeln gelöst“ werden können (Vitruv 1. Kap. Abs. 4). Gegen diese Vorstellung grenzte sich Pei in seinem Berliner Gebäude konsequent ab und formulierte das auch explizit: In einem Interview mit der Zeitung „Die Zeit“ bekannte er 2003, dass ihn der Wille treibe, „den sturen Rastern zu entkommen“. Der Pei-Bau lässt sich damit gleichermaßen als Kommentar zu prägenden Vorstellungen der abendländischen Architektur verstehen, wie auch als Gegenbild zu seiner konkreten städtebaulichen Umgebung, die von diesen Vorstellungen wesentlich geprägt ist.
Dass diese Botschaft ausgerechnet von einem Museumsbau für deutsche Geschichte ausgeht, mag Zufall sein. Vielleicht steckt darin aber auch ein unbewusst wahrer Kern, insofern Peis austariertes Spiel mit Regel und Regelbruch, Ordnung und scheinbarem Zufall auch als Kommentar zur Geschichte gelesen werden kann: Es gibt ja gute Indizien dafür, dass gerade die deutsche Geschichte in besonderem Maße als einen Widerstreit zwischen Ordnung und Chaos, zwischen Hierarchie und Aufbegehren verstanden werden muss. Wenn in Peis Gebäude manche Gegensätze bewusst unvermittelt aufeinandertreffen, andere aber mit gestalterischen Mitteln in einen Ausgleich gebracht werden, ist das Ausstellungshaus damit auch ein Kommentar zur Geschichte?
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Prof. Dr. Frank SchmitzFrank Schmitz ist Professor für Architekturgeschichte am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Zuvor war er als Gast- und Vertretungsprofessor an der Freien Universität Berlin und der Ruhr-Universität Bochum tätig. Seit 2022 ist er Mitglied des Hamburger Denkmalrats. |