„Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen!“

Charlotte Lenz | 20. September 2023

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die in Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt der Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Themen.

Die Sammlung der DHM-Bibliothek greift in vielerlei Hinsicht das Thema Umwelt auf. So dokumentiert sie mittels gezielt erworbener Objekte die spannende Geschichte der Beziehung zwischen Mensch und Universum. Charlotte Lenz, Mitarbeiterin und stellvertretende Leiterin der Bibliothek, zeigt, wie sich Motivation und Intention der Erforscher des Weltalls über die Jahrhunderte verändert haben.

Nur zwölf Deutsche schafften es bisher, selbst den Flug in die unendlichen Weiten des Weltalls anzutreten. Der Vulkanologe Alexander Gerst, der sowohl 2014 als auch 2018 ins All reisen durfte, trat dabei als einer der größten Publikumslieblinge auf, da er „sowohl die Öffentlichkeit als auch seine Astronautenkollegen mit in den Orbit genommen“ (Gerst [2017] S. 8) hat. Von ihm stammt auch das titelführende Zitat, welches andeutet, dass Neugierde und Wissensdurst letztlich nicht die einzigen Beweggründe für seine Expedition ins Weltall waren.

Alexander Gerst: 166 Tage im All, München: Frederking & Thaler Verlag, 2017 | DHM-Bibliothek A 17/950

Die Untersuchung und Auseinandersetzung mit dem Universum sowie mit dessen Aufbau und Prozessen geht bis in die Steinzeit zurück. Die unter dem Fachbegriff Astronomie (Sternenkunde) gebündelten Beobachtungsprozesse aller Himmelskörper wirkten sich recht schnell auf das alltägliche Leben aus, da durch sie u.a. die Tages- und Jahreszeiten bestimmt wurden – Einteilungen, welche bis heute das Leben des Menschen prägen. Über Jahrhunderte hinweg waren die Astronomie und die mit ihr eng verwandte Astrologie (Sternendeutung) die maßgeblichen Wissenschaften, um irdische Geschehnisse zu erklären. Die Astrologie verlor allerdings mit der Zeit ihren Status, da sie keinen Anspruch an beweisbare Thesen bot, sondern Prozesse mit der Stellung der Gestirne zu erklären versuchte.

Eines der frühesten Zeugnisse für die Erforschung des Weltalls in der DHM-Bibliothek stellt die von dem italienischen Mathematiker und Astronomen Guido Bonatti verfassten Decem tractatus Astronomiae aus dem 13. Jh. dar, welche 1491 erstmals in Augsburg gedruckt wurden. Neben der Sonne und dem Mond waren Bonatti noch fünf weitere Planeten bekannt. Allerdings vertrat er die damals noch gängige Ansicht, dass die Erde Mittelpunkt des Universums sei, um die alle anderen Himmelskörper kreisten. Insbesondere erforschte er aber die zwölf Tierkreiszeichen, deren Konstellation der Astrologie entsprechend, die Geschicke auf der Erde beeinflussten. Nikolaus Kopernikus identifizierte 1543 die Erde als sich selbst um die eigene Achse drehenden Planeten, welcher sich zusammen mit anderen Planeten um die Sonne bewegt, und widerlegte damit Bonattis bis dato geltende Theorie. Ab Ende des 16. Jh. trat der Universalgelehrte Galileo Galilei auf, der diese Lehre bis zur höchsten Instanz der römisch-katholischen Inquisition verteidigte. Sechs Jahre lang kämpfte er für eine Druckerlaubnis seiner berühmten Schrift Dialogo, welche im Februar 1632 endlich vollendet, bereits im Juli des gleichen Jahres wieder unter Zensur gestellt wurde. Einen weiteren Meilenstein in der Entschlüsselung des Weltalls setzte der Schweizer Mathematiker und Physiker Leonhard Euler in seinem bedeutenden Werk zur Bewegung von Planeten und Kometen, für deren Umlaufbahnen er Formeln und Berechnungen aufstellte. Alle diese Koryphäen aus der Vergangenheit hatten eines gemeinsam: sie forschten, um das Unerklärliche zu erklären und das Ungesehene für die Menschen sichtbar zu machen.

Richard Adams Locke: Neueste Berichte vom Cap der guten Hoffnung, Hamburg: Johann Philipp Erie, 1836 | DHM-Bibliothek R 2020/40

Eine Anekdote, die uns lehrt, auch heute Dinge nur als gegeben zu betrachten, wenn sie wissenschaftlich erwiesen sind und dennoch ein Leben lang kritisch zu bleiben, stammt aus dem Jahr 1835. Ein Jahr zuvor brach der britische Astronom Sir John Herschel zu einer Expedition nach Südafrika auf. Da aber die Kunde über neue Forschungsergebnisse auf sich warten ließ, begann der damals noch unbekannte US-amerikanische Journalist Richard Adams Locke in der New Yorker Zeitung Sun mit einer eigenen, allerdings frei erfundenen Artikelserie darüber. So beschrieb er darin nicht nur ein nicht vorhandenes Riesenteleskop detailgetreu, sondern auch friedlich grasende Bisons, Sandstrände, Klatschmohn und Pyramiden, die Herschel angeblich auf dem Mond gesehen haben wollte. Sogar menschliche Kreaturen mit Flügeln und ein Einhorn solle er entdeckt haben. Ein Riesenschwindel, der einzig und allein die Auflage der Zeitschrift erhöhte und als Great Moon Hoax in die Geschichte einging. Für Locke lag mitnichten der wissenschaftliche Fortschritt im Fokus seines Handelns, sondern wohl eher sein persönliches Renommee und die eigene finanzielle Bereicherung.

Mit dem Übergang ins 20. Jh. suchten Wissenschaftlerinnen immer mehr nach Wegen, das Universum nicht nur von der Erde aus zu beobachten, sondern im Weltall selbst zu untersuchen. Bereits 1917 entwickelte der bekannte Physiker Hermann Oberth hierfür eine mit Ethanol und Sauerstoff angetriebene Rakete, die in der Lage sein würde, die Erdatmosphäre zu durchdringen. In seinem bedeutendsten Werk Die Rakete zu den Planetenräumen aus dem Jahr 1923 – also vor genau 100 Jahren – stellte er kühn die These auf: „Derartige Maschinen können so gebaut werden, dass Menschen (wahrscheinlich ohne gesundheitlichen Nachteil) mit emporfahren können.“ (Oberth [1923], S. [7]) Wie stolz muss er gewesen sein, als seine damals noch als nicht umsetzbar eingestuften Ideen zunächst 1957 mit dem Start des Satelliten Sputnik und des Weiteren 1961 mit Juri Gagarin als erstem Menschen im Weltall Realität wurden. Diese Höhepunkte in der Raumfahrt setzten einen regelrechten Hype in Gang, der bis heute für viele Wissenschaftlerinnen, aber mittlerweile auch Privatmenschen, ein Lebenstraum ist.

Aber zurück zu Alexander Gerst, für den dieser Lebenstraum, wie bereits erwähnt, bereits zweimal in Erfüllung ging: 2014 als Techniker mit Außenbordeinsatz, 2018 sogar als Kommandant auf der ISS. „Neugier“ und „Wissensdurst“ sind seiner Meinung nach immer noch die Basis für die menschliche Erforschung des Weltalls. Aufgrund der modernen Möglichkeiten in der Wissenschaft, unseren schönen, aber auch fragilen Lebensraum von außen zu sehen, kommen aber weitere Beweggründe hinzu, nämlich die der Mahnung und Warnung. Gerst sah neben der grenzenlosen Schönheit der Erde auch, „wie sorglos wir mit unseren Ressourcen umgehen“ (Gerst [2017], S. 22ff), wenn er z.B. Aufnahmen abgeholzten Regenwald- und Kriegsgebieten anfertigte. Sigmund Jähn, 1978 der erste Deutsche im Weltall, formulierte diesen Umstand sogar noch drastischer, wenn er die Menschheit als „Räuber, die ihre Umwelt – eigentlich ohne Rücksicht auf nachfolgende Generationen – leiden lassen und in vielen Fällen sogar zerstören“ (Gerst [2017], S. 6), bezeichnete. Eine der Hauptaufgaben der Erforschung des Alls ist also heute auch, das Bewusstsein für die „wirklich großen Probleme“ auf der Erde zu schärfen und in der Sorge um unseren Planeten die Menschen zusammenzubringen, um diese „gemeinsam anzugehen“. (Gerst [2017], S. 8)

 

 

Charlotte Lenz

Charlotte Lenz ist stellvertretende Leiterin der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums