Stickerei als Medium zur Darstellung und Ordnung der Welt
Julia Franke | 15. November 2023
Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.
Julia Franke, als Sammlungsleiterin u.a. für die zivilen Textilien zuständig, betrachtet ein Stickbild, das Natur nach Ordnungsprinzipien der Aufklärung darstellt – und dabei liebliche Blumengirlanden mit einem Vulkanausbruch kombiniert.
Das Stickbild wirkt auf den ersten Blick anmutig und fröhlich mit den kleinformatigen Tieren und farbenfrohen Blumen und Federn, aber eine ordnende, ja systematisierende Hand hat der in vielfältigen Erscheinungsformen auftretenden Natur Einhalt geboten. Naturalistisch wie wertschätzend präsentiert das Stickbild eine weitgehend einheimische Vielfalt von Flora und Fauna. Unterhalb einer Reihe mit gesticktem Alphabet und dem mutmaßlichen Entstehungsdatum (12. März 1801) gruppieren sich Tiere verschiedener Gattungen – Säugetiere, Vögel, Insekten – und unterschiedliche Szenerien idealtypischer Landschaftsgärten. Zentrales Motiv, sogar mit einer feinen Schleife verziert, ist die Darstellung eines rauchenden Vulkans, wohl des Vesuvs. Damit ist ebenso ein bedrohliches Naturphänomen wie ein Vulkanausbruch Teil des Bildprogramms der Stickerei. Anschließend folgt eine Reihe von mehr als 20 Feder-Darstellungen. Die untere Hälfte des Stickbildes bestimmen Darstellungen von Pflanzen – Blumenmotive in Form von Sträußen und Girlanden – die Blumengebinde der oberen Reihe rechts werden zudem von Raupen beziehungsweise einem Falter „besucht“.
Repräsentative Nadelmalerei
Im 18. Jahrhundert wurden diese kunstvollen Handarbeiten für die Raumausstattung sowie für Kleidung und Accessoires angefertigt. Die aufwendigen Verzierungen sollten den jeweiligen Gegenständen einen höheren Repräsentationswert verleihen. Dieses auf Seide gestickte Bild zeichnet sich durch die im 18. Jahrhundert aufkommende feine Nuancierung der Farben aus. Durch die Plattstichmuster wirken die Farbverläufe bzw. Farbschattierungen der Garne sehr weich. Insbesondere bei den Darstellungen der Federn wie der Pflanzenmotive wird nachvollziehbar, warum diese Technik auch Nadelmalerei genannt wird.
Ausgeführt wurden die Stickereien nicht nur in kommerziell arbeitenden Werkstätten und Ateliers oder in Klöstern, sondern ebenso in privaten Haushalten. In bürgerlichen wie adeligen Kreisen galt insbesondere die Seidenstickerei als eine anerkannte Beschäftigung für Frauen und Mädchen. Die einzelnen Motive und Muster wurden in der Regel anhand von überlieferten Tüchern tradiert. Seit dem 16. Jahrhundert sind in Deutschland aber auch sogenannte Modelbücher bekannt, die Vorlagen in Form eines Holzschnitts einschlossen. Im 18. Jahrhundert kamen richtige Musterbücher auf den Markt, die Kupferstiche enthielten, mittels derer sich die Stickerinnen für die Verzierung von Tüchern und Bezügen, von Schürzen, Kleiderkanten und Hauben inspirieren lassen konnten.1 Stickbilder wurden im späten 18. Jahrhundert und dann vor allem im 19. Jahrhundert gerahmt an die Wand gehängt.
Naturkundliches Wissen
Nicht ein wie im Kontext von Stickmustertüchern häufig verwendetes christliches Bildprogramm ist Thema und Inhalt dieses Stickbildes. Die präzise und sorgfältige Stickerei verweist in ihrer beinahe zoologischen Genauigkeit vielmehr auf ein Wissen über die Natur und den Wunsch danach, diese möglichst detailgenau nachzuempfinden. Vögel wie Stein- und Seeadler, Reiher, Birkhuhn und Storch finden sich unter den Tierdarstellungen ebenso wie Bär, Kuh, Hirsch, Hund, Katze, Eichhörnchen, Schaf und Ziege oder Insekten wie Mai- und Hirschkäfer, Kohlweißling und Ameise. Hinter der Auswahl der verschiedenen Motive verbergen sich geistes- und wissenschaftshistorische Prinzipen des 18. Jahrhunderts als Axiome der Aufklärung: Methodische Vorgehensweisen, die auf Rationalität, Empirie und Universalismus gründen, sind hier verknüpft mit dem Ordnen der Welt. Die Ordnung der Welt ist eine grundlegende Praxis der Wissenschaften: Lebewesen werden nach bestimmten Merkmalen in Arten, Gattungen, Klassen und andere Kategorien unterschieden. Bereits 1753 war Species Plantarum erschienen, auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch das Standardwerk zur Beschreibung von Pflanzen von Europas führendem Pflanzensystematiker Carl von Linné. Der Gedanke der Klassifizierung findet sich auch auf dem seidenen Stickbild. Die Anordnung der Motive folgt einer Systematisierung, die eine Unterscheidung von Tieren, Pflanzen und menschlichen Ideen und Einflüssen vornimmt. Wissen über „die Natur“ wird und wurde gemacht – auch anhand der Kulturtechnik des Stickens.
Ein Bild von Natur
Einerseits betrieb die namentlich nicht überlieferte Stickerin dieses Bildes eine empirische wie akribische Arbeit an „der Natur“ und stand damit in der Tradition der Aufklärung. Zugleich erfolgte die Auswahl der Motive – insbesondere die der vier Szenerien, die durch Landschaftsgärten bzw. pastorale Kulturlandschaften inspiriert waren – einem Kult des Empfindens der Romantik. Die Tiere und Pflanzen, Blumengirlanden und idyllischen Szenerien wurden auch unmittelbar aufgrund ihrer ästhetischen wie symbolischen Qualitäten wertgeschätzt. Unter den gestickten Blumen finden sich etwa Veilchen und Rose, Symbole für Bescheidenheit, Demut bzw. Liebe. Die Formen, Farben und Zartheit ihrer Blüten sollten als wahrhaftig und schön genossen werden. Die Landschaftsgarten-Szenen beinhalteten zudem eine politische Dimension: Im Gegensatz zu streng geometrisch angelegten Gärten des Barocks wurden freiere, vermeintlich „natürlichere“ Naturdarstellungen – als Ausdruck einer freieren und harmonischeren Gesellschaftsordnung angesehen. Natur wird hier zwar in ordnende Klassifizierungen eingeteilt, aber gleichzeitig soll sie sich uneingeschränkter entfalten können als zuvor. Das ästhetische Wohlgefallen an den naturkundlichen Motiven verband sich also mit Gefühlen von Romantik und Freiheit.
Die Darstellung eines Vulkanausbruchs hebt sich nur scheinbar von den übrigen Motiven ab. Denn im Laufe des 18. Jahrhunderts kommt es zu einem veränderten Verständnis von Naturkatastrophen. Durch ihre beginnende Erforschung können die zerstörerischen Naturgewalten genauer untersucht und ihre Entstehung besser verstanden werden. Sie werden fortan nicht mehr als bloßes Zeichen eines zürnenden Gottes gedeutet und verlieren zunehmend an Schrecken.2 Dies geht sogar so weit, dass in ihrer Kraft und Gewalt eine Schönheit und Erhabenheit erkannt wird – und ein Vulkanausbruch zum Motiv eines Stickbildes wird.
Der zeitgenössische Anspruch, „die Natur“ zu erforschen, ist in diesem Objekt kombiniert mit einer ästhetischen Darstellung und Vermittlung von Natur bzw. Natürlichkeit. Natur als Wert der Aufklärung und der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft hingen hiermit also auf Seide gestickt an der Wand.
1 Vgl. Nina Gockerell: Gestrickt, gestickt, gedruckt. Mustertücher aus vier Jahrhunderten. Weilheim 1978.
2 Vgl. Christoph Daniel Weber: Vom Gottesgericht zur verhängnisvollen Natur. Darstellung und Bewältigung von Naturkatastrophen im 18. Jahrhundert. Hamburg 2015.
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Julia FrankeJulia Franke ist Historikerin und im Deutschen Historischen Museum Sammlungsleiterin für Alltagskultur. |