1.200 Unterschriften und ein Radpanzer hinter der DDR-Botschaft

Rolf Brockschmidt | 22. November 2023

Als Wolf Biermann im November 1976 aus der DDR ausgebürgert wurde, studierte Rolf Brockschmidt an der Utrechter Universität in den Niederlanden. Auch hier sorgte die Ausweisung für Empörung. Spontan gründeten Germanistikstudenten das Komitee „Biermann blijft DDR-Staatsburger“, an dem sich auch Brockschmidt beteiligte. Über ihr Engagement und den Versuch der DDR-Botschaft eine Petition gegen die Ausbürgerung zu überreichen, schreibt Rolf Brockschmidt im DHM-Blog.

Biermann ist ausgebürgert! Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe. Krisensitzung unterm Dach des Instituts für Germanistik der Rijksuniversiteit te Utrecht. Gregor Laschen, Dozent und Dichter, versammelte eine Handvoll seiner Studenten und mich als Gaststudent in seinem Zimmer. Er rief in unserer Anwesenheit den Bürgerrechtler Robert Havemann an. Der lehnte sich in Ost-Berlin aus dem Fenster und berichtete, dass vor Biermanns Haus Volkspolizei stehe. Wir hatten das Gefühl, in diesem historischen Moment live dabei zu sein. Auf Laschens Initiative gründeten seine Studenten spontan das Komitee „Biermann blijft DDR-Staatsburger“ („Biermann bleibt DDR-Staatsbürger“), bei dem ich mitarbeitete. Ich war 1976 an die Utrechter Universität gekommen, um hier für ein Jahr Niederlandistik und Germanistik zu studieren.

Gregor Laschen war gut vernetzt, gerade hatte er mit seinen Kontakten einer Gruppe von Studenten geholfen, eine 2. Auflage einer Anthologie deutschsprachiger Literatur mit bisher unveröffentlichten Texten herauszugeben. Biermann war mit seinem Gedicht „Ballade vom preußischen Ikarus“ in der ersten Auflage (Mai 1976) darin bereits vertreten. Das Lied hatte er auf dem legendären Konzert in Köln am 13. November 1976 gesungen, kurz bevor er ausgebürgert wurde.

Die Empörung unter niederländischen Intellektuellen war groß, liebäugelten doch manche von ihnen wie Biermann selbst mit der seit 1975 aufkommenden Idee des Eurokommunismus, der einen Weg jenseits des Staatskommunismus der Sowjetunion in der Demokratie finden wollte. Der DDR war diese Idee mehr als suspekt.

Das Biermann-Komitee der Niederlande posiert mit Transparent vor der Botschaft der DDR in Den Haag am 08. Dezember 1976. Vom ersten Stock der Botschaft aus wurde die Aktion eifrig fotografiert. Foto: Rolf Brockschmidt

Für uns ging es darum, möglichst viele Unterschriften für eine Petition gegen Biermanns Ausbürgerung zu sammeln. In dem Entzug der Staatsbürgerschaft sah das Komitee „einen ernsthaften Verstoß gegen die Menschenrechte“, wie später in der niederländischen Tageszeitung „de Volkskrant“ zu lesen war.

Der harte Kern des Komitees bestand aus etwa zehn Personen. Wir versuchten, unsere Mitstudierenden zu überzeugen, die Petition zu unterschreiben – was nicht immer einfach war, weil die niederländischen Studierenden längst nicht so politisiert waren wie ihre West-Berliner Kommilitonen.

„Wolf Biermann als einen Feind Ost-Deutschlands abzustempeln, ist auf Grund seiner deutlich positiven Äußerungen in Liedern und Texten eine Unwahrheit“, hieß es in der Petition, die der Botschaft der DDR im Andries Bickerweg in Den Haag übergeben werden sollte.

Aber nicht alle sahen das so blauäugig. Der erste Botschafter der Niederlande in der DDR, K.W. Reinink, bezeichnete Biermann als den „Don Quichotte der DDR-Kulturszene“, der sich „für eine DDR einsetzt, die nicht besteht und auch nicht bestehen kann“, zitiert ihn Jacco Pekelder, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien in Münster und Autor des Buches „Die Niederlande und die DDR. Bildformungen und Beziehungen 1949-1989“1.

Gerne hatte man damals, als in der Bundesrepublik Berufsverbote herrschten, in intellektuellen Kreisen der Niederlande die DDR als den wahren antifaschistischen deutschen Staat gesehen. Dass nun ausgerechnet dieser vermeintlich bessere Staat so hart gegen linke Kritiker vorging, stieß auf heftige Ablehnung.

Unser Biermann-Komitee hatte der Botschaft der DDR angekündigt, am 8. Dezember 1976 die 1200 Unterschriften persönlich zu überreichen. Vor der Botschaft erwarteten uns zehn Polizisten in blauen Uniformen, zum Teil in Lederjacken, mit Schirmmützen. Sie warteten in Mercedes-Limousinen auf uns. Ein für West-Berliner Augen sehr ziviler Auftritt.

Diskussion mit der Polizei vor der Botschaft der DDR in Den Haag. Foto: Rolf Brockschmidt

Als wir zehn Teilnehmer der Aktion zur Botschaft wollten, fragte der Einsatzleiter, ob dies eine Demonstration sei. Eine solche sei nicht angemeldet. Sollte es sich aber doch um eine Demonstration handeln, sei sie hiermit genehmigt. „So handhaben wir das in Den Haag.“ Der Satz ist mir in Erinnerung geblieben. Ich hielt mich etwas abseits, trug Sonnenbrille und einen Schal um den Mund, da ich ja noch im Transit mit dem Zug nach West-Berlin durch die DDR reisen musste.

Ein paar von uns gingen dann mit den Unterschriftenlisten zum Tor der Botschaft und klingelten. Man sagte uns über die Gegensprechanlage, die Botschaft sei geschlossen und man werde die Unterschriften nicht annehmen. Den Öffnungszeiten auf dem Messingschild konnte man allerdings entnehmen, dass die Botschaft eigentlich geöffnet war. Ein Reporter des linken Radiosenders VARA hatte uns begleitet und hielt sein Mikrofon an die Gegensprechanlage. Doch das Botschaftspersonal verweigerte die Annahme. Daraufhin landete der Umschlag im Briefkasten. Als wir zu den Autos zurückgingen, entdeckten wir hinter der Botschaft einen Radpanzer der Haager Polizei. Sicher ist sicher. Ganz so harmlos, wie es schien, war es also doch nicht. Offensichtlich hatte sich die DDR-Botschaft bedroht gefühlt. Bilanz der Aktion: Drei Meldungen im Radio und im Fernsehen sowie einen kleinen Artikel in „de Volkskrant“ mit der Überschrift „Botschaft lehnt Unterschriften für Biermann ab“2.

Protesaktion des Biermann-Komitees der Niederlande vor der Botschaft der DDR in Den Haag. Diskussion mit dem Einsatzleiter der Haager Polizei, ob die Unterschriftenübergabe als Demonstration zu werten sei. Foto: Rolf Brockschmidt

Wolf Biermann wiederum hatte sich nach dem Köln-Schock entschieden, seine nächsten Konzerte nicht in der Bundesrepublik zu geben, sondern in den Niederlanden. Am 27. Februar 1977 fuhr unsere Studentengruppe auf Kosten des Goethe Instituts mit einem Bus nach Nijmegen, wo Biermann auftrat. Ich erinnere mich an einen vollen großen Konzertsaal. Biermann trat mit der Gitarre auf, setzte sich auch ans Klavier und spielte seine Lieder, auch den „Preußischen Ikarus“. Er moderierte sich selbst, reagierte auf Zurufe aus dem Saal, blieb bissig und witzig, sparte nicht mit Kritik, weder am Westen noch am Osten. Die Menschen hingen an seinen Lippen. Selbst in der Pause diskutierte er engagiert auf der Bühne mit dem Publikum. Ich stand die ganze Zeit vorne an der Bühne und hatte fotografiert. Nach viereinhalb Stunden, es war deutlich nach Mitternacht, gab es donnernden Applaus, stehende Ovationen. Biermann wirkte sichtlich erschöpft, aber glücklich. Ein denkwürdiger Abend auf neutralem Boden.


1 Jacco Pekelder: Die Niederlande und die DDR. Bildformung und Beziehungen, 1949-1989. Münster 2002, https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/geschichte/ddr/biermann.html

2 „Ambassade weigert handtekeningen voor Wolf Biermann“, de Volkskrant, 9. Dezember 1976.

Rolf Brockschmidt

Rolf Brockschmidt hat Germanistik, Niederlandistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin und an der Rijksuniversiteit te Utrecht studiert. Von 1977-1981 berichtete er als freier Mitarbeiter für das Niederländische Programm des Deutschlandfunks aus West-Berlin. Von 1982-2018 war er nach einem Volontariat Redakteur beim Tagesspiegel, für den er heute noch als freier Journalist schreibt.