Das Kräuterbuch von Pietro Andrea Mattioli

Dr. Stephanie Neuner | 16. Mai 2024

Ein Blick in die Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zeigt die große Vielfalt an Objekten, die im Bezug zu verschiedenen Epochen und Themen deutscher Geschichte stehen. Sie erzählen Geschichten von zurückliegenden oder aktuellen Lebenswelten, von berühmten und eher unbekannten Personen und Ereignissen. In unserer neuen Blogserie #Umweltsammeln stellen wir die Vielfalt unserer Sammlungsobjekte zum Themenfeld „Umwelt“ vor. Dabei eröffnen überraschende Fragestellungen der Sammlungsleiter*innen neue Perspektiven auf historische Objekte und oftmals erstaunliche Parallelen zu heutigen Fragestellungen.

Pflanzen werden in der Botanik wie auch Biologie erforscht, darüber hinaus finden sie auch Anwendung in der Medizin. Ein lehrreiches Kompendium des italienischen Arztes Pietro Andrea Mattioli (1501-1578) befindet sich in den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums. In diesem legte der Leibarzt am Prager Hof sein enormes Wissen zur Erstellung und Anwendung von Arzneien aus natürlich vorkommenden „Kräutern“ dar. Dr. Stephanie Neuner, Fachbereichsleiterin Ständige Ausstellung, bietet in dem letzten Beitrag zur Serie #Umweltsammeln einen Blick in das faszinierende Wissen der Frühen Neuzeit.

Das rund 1200 Seiten umfassende Werk von Pietro Andrea Mattioli mit dem Titel New Kreüterbuch. Mit den allerschönsten vnd artlichsten Figuren aller Gewechß, dergleichen vormals in keiner sprach nie an tag kommen von 1563 vermittelt den Wissensstand zu Botanik und Pflanzenheilkunde im Europa des 16. Jahrhunderts.1 Als Ausdruck humanistischer Wissenschaftspraxis integrierte das Werk das Pflanzenwissen des Mittelmeerraums antiker Autoren wie Dioscorides oder Plinius d.Ä., erweiterte dies jedoch um die Flora nördlich der Alpen sowie auch Pflanzen aus der so genannten Neuen Welt. Das Kräuterbuch birgt ungeheures Erfahrungswissen in Bezug auf die therapeutische Anwendung pflanzlicher und tierischer Stoffe bei unterschiedlichsten Krankheitssymptomen. Hier versammelte sich nicht nur das Wissen akademischer Ärzte, dem Erfahrungsschatz immanent war auch das Wissen von Apothekern und nicht-akademischen Heilerinnen und Heilern sowie auch Patienten und Patientinnen, deren Rückmeldungen zu Arzneien direkt an die sie behandelnden Ärzte ergingen.2 Mattioli war wie üblich in der Wissenschaftskultur seiner Zeit eingebunden in ein europaweites Netzwerk von Gelehrten, die sich über Briefe austauschten, aber auch Realien wie getrocknete Pflanzen oder Zeichnungen von Pflanzen von überall auf der Welt einander zusandten.3

Das im Kräuterbuch versammelte Wissen um die materia medica bereitete Mattioli nicht allein für akademische Ärzte auf,4 sondern ebenso für Apotheker, Chirurgen oder Hebammen und schließlich in deutscher bzw. alttschechischer Sprache für alle zur Selbstmedikation. Die deutsche Übersetzung aus dem Lateinischen durch den Arzt Georg Handsch (1529-1578) trug dabei wesentlich zur allgemeinen Verbreitung und Rezeption des Kräuterbuches bei. Verschiedene Inhaltsverzeichnisse zu Pflanzennamen sowie zu Krankheitssymptomen nach Körperregionen und Krankheitsbildern erleichterten die Benutzung.5 Kräuterfrauen und Mägde, die im Auftrag von Ärzten, Handwerkschirurgen oder Apothekern Pflanzen sammelten, konnten mithilfe der Abbildungen instruiert werden.6 Wer sich das teure Buch, anders als Adelige oder vermögende Bürger, nicht leisten konnte, konnte es vielleicht in Ratsbibliotheken oder den Privatbibliotheken einsehen.


Die Beschreibungen und Anwendungshinweise zu den im Kräuterbuch aufgeführten Pflanzen – Bäumen, Sträuchern, Früchten, Getreide, Gemüse, Gewürze, Pilze und Wildblumen – reflektieren die zeitgenössische Krankheitslehre sowie den damaligen Stand der Pflanzenheilkunde. Gleichzeitig spiegelt sich darin das in Anlehnung an Aristoteles formulierte Naturverständnis der Zeit, wonach die Menschen in einer von den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft, Erde geprägten Welt mit ihren vier Eigenschaften lebten. Jeder Stoff, jeder Körper und eben auch jede Heilpflanze besaß entsprechend eine warme, kalte, trockene und feuchte Qualität, die für die Heilung von Krankheiten einschlägig war: War ein „kalter Magen“ das gesundheitliche Problem, wurde ein mit gegenteiliger Qualität ausgestattetes Mittel gegeben, also ein Heilmittel mit warmer oder heißer sowie trockener Qualität wie beispielsweise Ingwer, Kardamom oder Pfeffer. Das Wirkungsspektrum war bei vielen Pflanzenstoffen weit: Pfeffer „sterckt den kalten Magen“, „vertreibt die Winde“, heißt es im Kräuterbuch. Er sei appetitanregend und harntreibend, wirke äußerlich in Form eines als Zäpfchen empfängnisverhütend, als Pflaster gegen „harte knollen“ und „kröpffe“ sowie mit Honig vermischt gegen „halßgeschwäre“.7 Bei „feber“ und „kaldte“ sollte Pfeffer mit Stückchen von Ingwer und Zimt in warmen Weinessig getrunken werden.


Stängel, Blüten, Blätter und Wurzeln wurden zerstoßen, pulverisiert oder verkocht und in unterschiedlicher Form angewandt: als Getränk, häufig mit Wein vermengt, als eingedickter Saft (Latwerge), für Kinder gesüßt mit Zucker oder Honig, als Tinktur oder Pille, als Bad, Pflaster, Salbe oder Umschlag.8 Purgierende, also reinigende, Therapien galten als besonders wichtig, um den Körper von schädlicher Krankheitsmaterie zu befreien.9 Schwarze Nieswurz sollte bei „fallender Sucht“ und „Melancholey“ helfen, eben weil sie „purgiert“ und „durch den stulgang allerley feuchtigkeit“ austreibt.10 Reinigend wirken sollte ebenso ein alkoholhaltiger Sud aus Wurzeln und Blättern der Pfingstrose, vor allem bei Beschwerden von Wöchnerinnen und Krämpfen von Säuglingen.11 Aderlasse oder Einläufe mittels eines Klistier wurden als weitere standardmäßigen reinigende, ausleitende Verfahren benannt.


Das Kräuterbuch nimmt zudem Bezug auf tierische Stoffe wie Amber, die als Duftstoffe begehrt und wertvoll waren. Amber – Walexkrement, bestehend aus Meeresmaterie – und Zibet – eine Substanz aus dem Hodensack von Tieren – wurden erotisierende Wirkung zugeschrieben. Als Duftstoffe bekämpften sie außerdem die „Pestlilenzische Luft“.12 Die Mischung aus pflanzlichen, tierischen, mineralischen oder anderen organischen Stoffen wie Schalen, Muscheln, Perlen oder aber auch Mumia – zerriebener Mumie –  war nichts Ungewöhnliches, wenn auch klar eine Luxusoption bei der Arzneiherstellung. Neben den Qualitäten warm, kalt, trocken, feucht kannten Naturphilosophen der Zeit auch okkulte, verborgene, Qualitäten. Zauberei konnte als Krankheitsursache glaubhaft sein, sofern diese durch Zeugen belegbar schien. Es verwundert daher nicht, dass Mattiolis Kräuterbuch auch Mittel für einen verzauberten Hunde aufführt, der nicht mehr bellen und das Anwesen gegen Einbrecher verteidigen konnte. Durch Sterckkraut wurde er geheilt.13 Auch Vorhersagen in Bezug auf „Teurung, Krieg, Pestilenz“ sollten mit Hilfe von Pflanzen möglich sein, beispielsweise indem man das Gehäuse von Galläpfeln interpretierte entsprechend der Losung „die fliege bedeutet krieg/das würmle thewrung/die sonnen den sterbslauff“.14


Das Kräuterbuch richtete sich insbesondere an den „gemeinen Mann“ bzw. den für die Gesundheitsfürsorge des Haushalts zuständigen „Hausvater“ bzw. die „Hausmutter“ und versammelte allerlei praktisches Wissen rund um Haushalt, Garten und Haustierhaltung. Die Bandbreite reicht von der Konservierung von Fleisch und anderen Lebensmitteln, Bekämpfung von Ungeziefer oder der Färbung von Kleidung durch Pflanzenfarben.15 Das Buch schließt mit Hinweisen zum Destillieren und Verkochen, die auch für die heimische Küche geeignet waren, um Arzneien und anderes herzustellen. Welche Inhaltsstoffe hier Verwendung fanden, hing vom finanziellen Spielraum ab sowie vom Bestand der nächstgelegenen Apotheke und der Anbindung des Ortes an den Handel und Fernhandel, über den die nicht heimischen Pflanzen geliefert wurden.


Mit großer Auflagenstärke brachte das Werk botanisches Wissen nicht nur via Text an die Leser, sondern die besondere Qualität seiner fast 800, teilweise handkolorierten Abbildungen schuf gleichsam auch ein besonderes ästhetisches Erleben. Integraler Bestand des Werkes und damit auch des Wissens um die material medica war das Können von Zeichnern wie Giorgio Liberale und Wolfgang Meyerpeck sowie der Formschneider der Holzschnitte für die filigranen Pflanzenabbildungen.16 Das Kräuterbuch unterstreicht damit die Bedeutung der visuellen Dimension wissenschaftlichen Wissens in der Frühen Neuzeit.1717

Das Kräuterbuch in der Sammlung des DHM verrät durch handschriftliche Notizen und Unterstreichungen seine Nutzung weit über das 16. Jahrhundert hinaus. Keine Überraschung, da sich die materia medica bis ins 19. Jahrhundert nicht grundlegend änderte. Jemand hatte zum Beispiel ein besonderes Interesse an Arzneien bei „fallsucht“ bzw. „Epilepsie“, wie er oder sie das Krankheitsbild Jahrhunderte nach dem Erscheinen des Kräuterbuches nannte. Bevor das Buch in die Sammlung des DHM kam, war es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Besitz eines Zahnarztes wie auch eines Heilers und Hellsehers in Oberbayern. Von wann die gepressten und getrockneten Pflanzen im Buch sind, ist schwer zu beurteilen. Sie zeugen in jedem Fall von der praktischen Verwendung des Buches und der Anwendung und Weiterentwicklung des im Kräuterbuch versammelten Wissens.


  1. Ich danke Prof. Dr. Sabine Schlegelmilch, Universität Würzburg, für den fachlichen Austausch und ihre wertvollen Hinweise.Pietro A. Mattioli: New Kreüterbuch. Mit den allerschönsten vnd artlichsten Figuren aller Gewechß, dergleichen vormals in keiner sprach nie an tag kommen […], gedruckt in Prag bei Jiří Melantrich z Aventin 1563, verlegt bei Vincenzo Valgrisi in Venedig, Inv. Nr. RB 2020/5. ↩︎
  2. Annemarie Kinzelbach, Karen Nolte, Stephanie Neuner: Medicine in Practice: Knowledge, Diagnosis, Therapy, in: Martin Dinges, Kay-Peter Jankrift, Sabine Schlegelmilch, Michael Stolberg: Medical Practice, 1600-1900. Physicians and Their Patients, Leiden/Boston 2015, S. 99-130, hier S. 109. ↩︎
  3. Pietro Andrea Mattioli an Scipione Cibo in Wien am 24. Juni 1564, www.aerztebriefe.de/id/00031872, Abrufdatum 19.04.2024 (hier geht es um Zeichnungen); Mattioli an den Arzt Ulisse Aldrovandi in Bologna am 20. September 1559, www.aerztebriefe.de/id/00052140 (Abrufdatum 29.04.2024), Willem Quackelbeen aus Konstantinopel an Pietro Andrea Mattioli am 26. Juli 1557, www.aerztebriefe.de/id/00028600 (Abrufdatum 20.04.2024). ↩︎
  4. In der ärztlichen Ausbildung hatte die Botanik im 16. Jahrhundert große Bedeutung. Studenten erweiterten ihr Wissen in botanischen Gärten von Universitäten, Gelehrten, Apothekern und reichen Privatleuten. Michael Stolberg: Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance. München u.a. 2021, S. 78-85 ↩︎
  5. Renate Pfeuffer: Vom köstlichen Schatz der Kräuter. Das deutsche Kräuterbuch des Pietro Andrea Mattioli von 1563 und seine Illustrationen, in: Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins für Schwaben Bd. 118 (2014), S. 3-24. ↩︎
  6. Sabine Schlegelmilch: Ärztliche Praxis und Sozialer Raum im 17. Jahrhundert: Johannes Magirus (1615–1697). Köln u.a. 2018, S. 312. ↩︎
  7. Schlegelmilch, Ärztliche Praxis, S. 210; Mattioli, Kräuterbuch, 219A: Ingwer; ebd, 218B: Gemeiner Pfeffer; ebd, 220D: Cardamon. ↩︎
  8. Vgl. Kinzelbach, Nolte, Neuner: Medicine in Practice. ↩︎
  9. Stolberg, Renaissance, S. 187-193; Schlegelmilch, Ärztliche Praxis, S. 207. ↩︎
  10. Mattioli, Kräuterbuch, 523C: Schwarze Niesswurz. ↩︎
  11. Mattioli, Kräuterbuch, 383A: Peonien(rosen) ↩︎
  12. Sahra-Maria Schober: Begehrt und ekelhaft. Ambra in der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 27(1), S. 11-31; Mattiolo, 17A: Amber; ebd, 17D: Zibet. ↩︎
  13. Mattioli, 519D: Sterckkraut. ↩︎
  14. Mattioli, 70C: Galläpfel. ↩︎
  15. Mattioli, 43A: Erle, 50A: Weddornbeer/Creutzbeer, 91D: Apfelbaum, 82C: Heidelbeer. ↩︎
  16. Pfeuffer, Kräuter, S. 16f. ↩︎
  17. Weiterführend vgl. Sachiko Kusukawa: Picturing the book of nature: Image, text and argument in sixteenth-century human anatomy and medical botany, Chicago 2012; Pamela H. Smith: Art, Science, and Visual Culture in Early Modern Europe, in: ISIS Vol. 97(1), March 2006, S. 3-100. ↩︎

Dr. Stephanie Neuner

Dr. Stephanie Neuner ist Fachbereichsleiterin Ständige Ausstellung und stv. Projektleiterin neue Ständige Ausstellung am Deutschen Historischen Museum.