Augen-Blicke der Vernunft

Das „Kunst-Auge“ des Stephan Zick als Leitmotiv der Ausstellung

Wolfgang Cortjaens | 23. Oktober 2024

Der starre, reptilienartige Blick eines gläsernen Kunstauges, eingefasst von der geäderten Haut der Lider, ringförmig umschlossen von einem hölzernen profilierten Kreis ist das ebenso befremdliche wie bannende zentrale Werbemotiv der aktuellen Ausstellung des DHM „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“. Als solches ziert es den Katalog, das Plakat und sämtliche Werbematerialien. Doch erst in der Ausstellung begegnet den Besuchenden das zugehörige Objekt in seiner Gesamtheit und erschließt sich sein Kontext:

Abb. 1

Es handelt sich um das maßstabsgetreue anatomische Modell eines menschlichen Auges, eingehaust in ein auf profiliertem Elfenbein-Fuß stehendes Gehäuse aus Nussbaumholz, das mittels eines abschraubbaren Deckels verschließbar ist. [1]

Abb. 2

Das im Behältnis eingelassene „Kunst-Auge“ ist herausnehmbar, dreifach aufschraubbar und in acht Einzelteile zerlegbar. Das Augenlid und die Halbschale mit den fein aufgemalten Äderchen sind aus Elfenbein gefertigt, das aufschraubbare Behältnis aus Horn. Bei der Montage im Vorfeld der Ausstellung stellte die zuständige Restauratorin erstmalig fest, dass die Oberschale, welche die Glaslinse fixiert, aus Schildpatt besteht, dem Panzermaterial der Karettschildkröte, aus der früher auch Kämme und andere Gebrauchsgegenstände hergestellt wurden. Vermutlich verwendete man dieses Material wegen seiner durchscheinenden Farbigkeit.

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die verblüffend realistischen Effekte sich teils ganz simplen Fertigungstechniken verdanken, etwa der Hinterlegung des aus Glas bestehenden transparenten „Regen-Bogen“ (Iris) mit bemaltem Papier. Im Gegensatz zu anderen Augen-Modellen derselben Werkstatt, deren Behältnisse und Ständer meist aus kostbarem Elfenbein gefertigt sind,[2] besteht das Gehäuse beim Exemplar des DHM aus gedrechseltem Nussbaumholz; auch ist im Gegensatz zu den Vergleichsstücken, bei denen sich der Augapfel mittels eines an der Rückseite befestigten Stifts bewegen lässt, die Montierung beim ausgestellten Exemplar statisch. Aus anatomischer Sicht ist der Augapfel nicht korrekt nachgebildet, sondern etwas größer als in der Natur.

Keine andere geistesgeschichtliche Epoche hat sich in vergleichbarer Vielfalt und Intensität der Lichtmetaphorik bedient wie die Aufklärung: „das Auge, das sehen und überprüfen kann, wurde zum privilegierten Sinnesorgan“.[3] Aber auch das Nicht-Sehen-Können wurde in Medizin, Wissenschaft und Philosophie verstärkt thematisiert, so in Diderots Schrift „Brief über die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden“ (1749), die im Ausstellungsrundgang in direkter Nachbarschaft zum „Kunst-Auge“ angesiedelt ist.[4] Darin führt Diderot in Abgrenzung zu den frühen Aufklärern, denen Blindheit noch als Zeichen der Unmündigkeit galt, anhand von vier Blindenfiguren die Ablösung der Blindheit als „entsinnlichtem Erkenntnismodell sinnlicher Erkenntnis durch Blindheit als ästhetische Inszenierung ästhetischer Erfahrung“ vor.[5] Das Betasten zwecks sinnlicher Erfahrung der physischen Welt ebenso wie des eigenen Körpers wurde zum probaten pädagogischen Mittel der Erkenntnis wie des Selbsterkennens. Diesen Denkansatz sollte Herder in seiner „Physio-Ästhetik“ fortsetzen; auf seine Überlegungen zum Haptischen beziehen sich in der Ausstellung die taktilen Stationen und die Spiegel-/Fotostation zu zwei grimassierenden „Charakterköpfen“ Franz Xaver Messerschmidts.

Das kuriose „Kunst-Auge“ – halb anatomisches Modell, halb Kunstkammerobjekt – steht für die Praxis des wechselseitigen Austauschs zwischen Wissenschaft und Kunsthandwerk, der für die gesamte Frühe Neuzeit so überaus kennzeichnend war.[6] Mit Entwicklung der ersten Mikroskope und Fernrohre zu Beginn des 17. Jahrhunderts etablierte sich die Optik allmählich als eigene Wissenschaftsdisziplin. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistete Isaac Newton (1642–1727), dessen Aufzeichnungen und Skizzen zur Optik einen wichtigen Referenzpunkt der Ausstellung bilden und durch Leihgaben der originalen Manuskripte aus der Cambridge University Library vertreten sind. Neue Studien zur Lichtbrechung und -ausbreitung – der Korpuskulartheorie Newtons, der zufolge Licht aus winzigen Teilchen (Korpuskeln) besteht, setzte 1690 der Niederländer Christiaan Huygens (1629–1695) in seinem Traité de la lumière die erste Wellentheorie des Lichts (sog. „Huyghensches Prinzip“) entgegen – warfen unweigerlich Fragen nach der Verarbeitung visueller Informationen im Auge auf. Anatomie und Funktionsweise des Auges waren bis zum 18. Jahrhundert weitgehend unbekannt. Erst Dank immer präziserer optischer Instrumente entwickelte sich die Augenheilkunde zum selbstständigen Fach. Der einer bekannten Nürnberger Kunstdrechsler-Dynastie entstammende Elfenbeinkünstler Stephan Zick (1639 – 1759). war spezialisiert auf aus Elfenbein, edlen Hölzern oder Horn gefertigte Modelle von Augen und Ohren sowie von verkleinerten Ganzkörpermodellen mit herausnehmbaren Organen und teilweise beweglichen Gliedmaßen.

Abb. 5

Zicks Augen-Modelle wurden nachweislich auch in der Praxis von Ärzten „zum Nutz- und Lehrgebrauche in der Anatomie“ eingesetzt. Auf dem Titelblatt einer wohl von ihm selbst verfassten Begleitschrift zum Augen-Modell, Kurtze und mechanische Beschreibung Dieses Kunst-Auges (um 1700), legitimiert Zick seine Produktpalette, indem er sich auf die anatomischen Forschungen zweier renommierter Nürnberger Mediziner beruft: des 1686 vom „Collegium medicum“ zum Sektor bei anatomischen Demonstrationen berufenen Arztes und Botanikers Johann Georg Vol(c)kamer d.J. (1662–1744) und des Stadtarztes Daniel Bscherer (1656–1718).[7] Beide verdankten ihre Erkenntnisse zum Bau des menschlichen Auges der auch im Titel erwähnten öffentlich durchgeführten Sektion eines Gehenkten.

Abb. 6

Auf Basis der Forschungen von Volkamer und Bscherer werden in Zicks Publikation die einzelnen Bestandteile des menschlichen Auges ebenso wie des „Kunst-Auges“ erläutert und durch eine beigegebene Kupfertafel anschaulich illustriert.

Abb. 7

Das wissenschaftliche Vokabular entspricht weitgehend schon dem heutigen Gebrauch, so das „hornförmige Häutlein“ (Tunica cornea) der „Hornhaut“; dagegen werden die Linse (Lens crystallina) noch als „Chrystallinische Feuchtigkeit“, die vordere Augenkammer, deren Kammerwasser zur Ernährung der Linse und Hornhaut dient, als „Gläserne Feuchtigkeit“ bezeichnet. Zicks „Kunst-Auge“ vereint gleich mehrere Leitthemen der Ausstellung in sich: das im mechanistischen Zeitalter stetig zunehmende Interesse an Funktion und innerem Aufbau des menschlichen Körpers, die Faszination für optische Phänomene, für Sehmaschinen (zu denen die gleichfalls in der Ausstellung präsentierten Perspektiventheater und Guckkästen zählen), experimentelle Projektionen und Spiegelungen.[8] Bezeichnend hierfür ist Zicks Identifizierung des „Netz-Häutleins“ als das „vornehmste Werckzeug des Sehens“, auf welches „gleich auf einen (sic!) weissen Tuch über eine finstere Kammer (Cameram obscuram) ausgebreitet“ die „Dinge der sichtbaren Welt“ geworfen und „wie in einen Spiegel aufgenommen“ würden.[9] Von einer Erschließung der komplexen optischen Vorgänge waren Zick und seine Mitstreiter freilich noch weit entfernt. Dies verdeutlichen insbesondere die abschließenden Aussagen zur Verarbeitung der visuellen Information: „von denen durch die Crystallinische und Gläserne Feuchtigkeit hineingeworffenen Strahlen in unterschiedlich Bewegung gebracht werden / durch welche manigfaltige Bewegungen so vielerley Dinge und Gestalten hernach von der Phantasie gesehen und von der Vernunft beurtheilt werden.“[10] Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Gegensatzpaares „Phantasie“ und „Vernunft“. Hier klingt der im Zeitalter der Aufklärung zunehmend intensive Widerstreit zwischen den Positionen des Empirismus (Locke, Voltaire, Diderot), demzufolge alles Wissen aus der inneren oder äußeren Sinneserfahrung abgeleitet werden kann, und des Rationalismus (Leibniz, Wolff, Kant), der ein Wissen a priori voraussetzt. Die Vernunft erscheint auch in der Schrift des Nürnberger Kunstdrechslers als maßgebende urteilende Instanz und lässt somit eines Deutung des Augen-Modells als pars pro toto für das sich Bahn brechende neuartige, hinterfragende Sehen zu, welches im Unterschied zu den primär der Schaulust verpflichteten frühneuzeitlichen Wunderkammern und Raritätenkabinette eine vom Willen zur Durchdringung der physiologischen Vorgänge geleitete Wissenschaft begründen half.

Bildnachweise

Abb. 1, 2, 3, 4: Anatomisches Modell eines menschlichen Auges im Behältnis, Stephan Zick (?) (1639–1715), Nürnberg, um 1700, Nussbaumholz, Horn, geschnitzt und gedrechselt, Elfenbein, Glas, Papier, Schildplatt, Deutsches Historisches Museum: 1991/2641

Abb. 5: Anatomisches Lehrmodell einer schwangeren Frau, Stephan Zick (1639–1715), Nürnberg, um 1680/1700, Elfenbein (Figur, Kopfkissen), Holz, Leder, Samt, Borte (Etui), Deutsches Historisches Museum: KG 96/27

Abb. 6, 7: Kurtze und mechanische Beschreibung Dieses Kunst-Auges…, Nürnberg (um 1700), Permalink: urn:nbn:de:hebis:30:2-229185 (Zugriff am 14.10.2024)


[1] Vgl. Leonore Koschnick, „Modell des menschlichen Auges mit Behältnis“, in: Bilder und Zeugnisse deutscher Geschichte. Aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums, Berlin 1995, S. 187; Wolfgang Cortjaens, „Modell eines menschlichen Auges im Behältnis“, in: Raphael Gross und Liliane Weissberg (Hg.): Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert, München 2024, S. 93.

[2] Vgl. etwa das bewegliche Augen-Modell auf spiralförmigem gedrechseltem Elfenbein-Standfuß im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Inv.-Nr. WI2282), vgl. Susanne Thürigen, „Gläserne Augen“, in: Sabine TIedke (Hg.): Meisterwerke aus Glas, Verlag des Germanischen Nationalmuseums 2023, Kat. 25, S. 106f.

[3] Liliane Weissberg, „Fragen stellen“, in: Gross/Weissberg 2024 (wie Anm. 1), S. 13–26, hier: S. 16. Zur Lichtmetaphorik vgl. insbesondere die Beiträge von Horst Bredekamp und Daniel Fulda ebd.

[4] Denis Diderot: Lettres sur les Aveugles: A l’Usage de Ceux Qui Voyent, London 1749, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Sign. Nf 9532.

[5] Vgl. Kai Nonnenmacher, Das schwarze Licht der Moderne. Zur Ästhetikgeschichte der Blindheit, Tübingen 2006, S. 5; zu Diderot bes. S. 47–92.

[6] Vgl. Frank Matthias Kammel und Johannes Pommeranz: „Das Modell als Kunstwerk“, in: Frank Matthias (Hg.): Leibniz und die Leichtigkeit des Denkens. Historische Modelle: Kunstwerke Medien Visionen, Nürnberg 2016, S. 134. Noch 1727 zählte der Nürnberger Kaufmann Johann Magnus Volkamer (1671–1752), ein Enkel des Botanikers und Besitzer eines „Kunst-Kammerlein“, zu den „Bewunderungs-würdige[n] Dinge[n]“ seiner Sammlung mehrere „Vom alten Zicken und seinem Sohn aus Helffenbein gar künstlich gedrehete Stücke“. Vgl. Neickel, Museographia oder Anleitung zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum, oder Raritäten-Kammern, Leipzig 1727, S. 167.

[7] Vgl. Kurtze und mechanische Beschreibung Dieses Kunst-Auges, So nach den Gebäu Eines Natürlichen Menschen-Auges Wie dasselbe bey der Zergliederung eines durch den Strang erwürgten Menschen-Cörpers Von den damahligen Demonstratore Herrn Dr. Daniel Bscherer/ Und Anatomico Herrn Dr. Johann Georg Volkamer/ In Nürnberg offentlich vorgestellet/ Durch Anleitung des Herrn Demonstratoris Von Stephan Zicken/ Kunst-Drechßlern in Nürnberg In diese Form Wie aus beygefügten Kupfer zuersehen gebracht worden ; Denen Curiosis damit zu dienen, Nürnberg, gedruckt bey Christian Sigmund Froberg, o.J. [um 1700]. Digitalisiert durch die Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg Frankfurt am Main [2015]: Permalink: urn:nbn:de:hebis:30:2-229185 (Zugriff am 14.10.2024).

[8] Vgl. Ulrike Boskamp, „Nachbilder, nicht komplementär. Augenexperimente, Sehlüste und Modelle des Farbensehens im 18. Jahrhundert“, in: Werner Busch und Carolin Meister (Hg.): Nachbilder. Das Gedächtnis des Auges in der Kunst, Zürich 2011, S. 49–70.

[9] Wie Anm. 4, S. 20.

[10] Ebd.

Dr. Wolfgang Cortjaens

Wolfgang Cortjaens ist Leiter der Sammlung Angewandte Kunst und Grafik am Deutschen Historischen Museum.